Der deutsche Arbeitsmarkt ist in ausgesprochen guter Verfassung. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade jetzt entscheidende Weichen gestellt werden sollten, um zu weiteren Fortschritten zu gelangen und für kommende Krisen gewappnet zu sein. Vier zentrale Handlungsfelder müssen wir jetzt anpacken: den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit, eine Qualifizierungsoffensive angesichts des durch die Digitalisierung vorangetriebenen Strukturwandels, ein beschäftigungsfreundlicheres Steuer- und Transfersystem und ein modernes Einwanderungsrecht.

Der deutsche Arbeitsmarkt zeigt sich aktuell in starker Verfassung. Die Erwerbstätigkeit und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung brechen Rekorde. Das Arbeitsvolumen, also die Gesamtzahl der gearbeiteten Stunden, liegt auf einem hohen Niveau. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit ihrem Höchststand im Jahr 2005 halbiert. Der seit den 1970er Jahren durchgängige Trend einer ansteigenden Sockelarbeitslosigkeit wurde gebrochen. Die Arbeitslosenversicherung ist heute solide finanziert. Auch im internationalen Vergleich ist Deutschland in vielen Aspekten spitze, insbesondere bei der günstigen Beschäftigungssituation junger Menschen. Die beeindruckende Widerstandskraft, die Wirtschaft und Arbeitsmarkt in der scharfen Weltrezession 2008/2009 gezeigt haben, wird international als „German miracle“ bewundert.

Die Diagnose des Zustands des deutschen Arbeitsmarktes und seiner Institutionen im Jahr 2017 kann daher nur lauten: insgesamt gesund. Aber: das gilt keineswegs für alle Bereiche. Erinnert sei daran, dass der Aufwärtstrend mit der Agenda 2010 – neben günstigen Rahmenbedingungen und einem Quäntchen Glück – auch einer enormen Kraftanstrengung geschuldet war. Diese hat sich jedoch nicht für alle ausgezahlt, wie zum Beispiel die noch immer beträchtliche Zahl an Langzeitarbeitslosen zeigt. Weitere Verbesserungen sind also unbedingt erforderlich, selten war die Zeit dafür so günstig wie heute.

Wo aktuell die größten Probleme liegen

Zu den dringlichsten Problemen gehören heute die Langzeitarbeitslosigkeit, Qualifikationsdefizite, regionale Disparitäten und der geschwächte gesellschaftliche Zusammenhalt, der seine Ursachen auch am Arbeitsmarkt hat.

Trotz des aufnahmefähigen Arbeitsmarktes erweist sich der Zugang für Geringqualifizierte und Personen mit anderen vermittlungshemmenden Merkmalen, wie beispielsweise gesundheitlichen Problemen, häufig selbst in prosperierenden Regionen als schwierig. Wenn es ihnen dennoch gelingt, einen Job zu finden, müssen sie nicht selten erhebliche Kompromisse machen, etwa in puncto Bezahlung, Beschäftigungsdauer oder Aufstiegsmöglichkeiten. Zugleich lassen sich Stellen, die günstigere Merkmale aufweisen, immer schwerer besetzen, weil vielen Bewerbern die geforderten Qualifikationen fehlen. Teilweise liegen sicherlich auch noch Potenziale brach. Beschäftigte stecken beruflich in einer Sackgasse, können beispielsweise ihre Qualifikationen nicht ausschöpfen oder nicht so viele Stunden arbeiten, wie sie gern würden.

Welche gesellschaftlichen Herausforderungen sich außerdem stellen

Zudem stehen Wirtschaft und Gesellschaft vor verschiedenen grundlegenden Herausforderungen, denen gemein ist, dass sie erheblichen Anpassungsbedarf auf dem Arbeitsmarkt erzeugen. Da wäre zunächst die Demografie: Die deutsche Bevölkerung schrumpft und altert. Neben dem längerfristig zu erwartenden Rückgang der verfügbaren Arbeitskräfte hierzulande stellt insbesondere die Alterung eine Herausforderung dar, da Arbeitsplätze entsprechend angepasst werden müssen und die Innovationskraft tendenziell mit zunehmendem Alter zurückgeht. Umso mehr muss lebenslanges Lernen, also der Erhalt und die Anpassung berufsbezogener Fähigkeiten, für jeden Einzelnen wie auch in der betrieblichen Personalpolitik zum gelebten Prinzip werden und auf heterogene Teams gesetzt werden. Ansonsten könnte die wirtschaftliche Dynamik in Zukunft gefährdet sein. Zugleich stellt sich bei einem langfristig rückläufigen Erwerbspersonenpotenzial die Frage, wie der Bedarf der Wirtschaft an gut qualifizierten Fachkräften dauerhaft gesichert werden kann.

Durch die Digitalisierung können sich wirtschaftliche Strukturen abrupt und radikal ändern, was insbesondere auch für die Arbeitsmarktpolitik eine Herausforderung darstellt. Viele Elemente sind dabei von den Akteuren am Arbeitsmarkt selbst und durch passende staatliche Rahmenbedingungen gestaltbar. Dies gilt etwa für die unabweisbar erforderlichen Investitionen in Qualifizierung und Weiterbildung, für die Unterstützung von räumlicher und beruflicher Mobilität sowie für die Abfederung anderer notwendig werdender struktureller Anpassungsprozesse.

In Zeiten global vernetzter Ökonomien geraten neben den regionalen immer mehr auch die internationalen Disparitäten in den Blickpunkt. Störungen in der vernetzten Weltwirtschaft sind auf vielfältige Weise möglich. Stichworte sind Handelskriege, der massive Anstieg der Armutsmigration oder eine erneute Erschütterung des globalen Finanzsystems. Im globalen Wettbewerb ergeben sich mit dem Ressourcen-, Klima- und Umweltschutz auf der einen Seite neue Tätigkeitsfelder, insbesondere wenn es Deutschland hierbei gelingt, eine Führungsrolle einzunehmen. Auf der anderen Seite ist es möglich, dass diese Entwicklungen veränderte Nachfragestrukturen nach sich ziehen, die – wie bei der derzeitigen Debatte um Elektromobilität –  auch Kernbereiche der deutschen Wirtschaft empfindlich treffen und Anpassungsdruck erzeugen können.

Worüber Einigkeit besteht – die Grundsätze guter Arbeitsmarktpolitik

Über die wesentlichen Grundsätze guter Arbeitsmarktpolitik dürfte weitgehend Einigkeit bestehen. Zu einer Qualitätsstrategie, die durch breite Qualifikation, gute Bezahlung, intelligente Produkte, Hightech, hohe Innovation und ausgeprägtes Umweltbewusstsein gekennzeichnet ist, gibt es für die Bundesrepublik keine Alternative.

Zwischen einer dynamischen und innovativen Wirtschaft und einem starken Arbeitsmarkt besteht eine enge Wechselbeziehung. Das „deutsche Modell“  mit seiner Exportorientierung, der Spezialisierung auf Qualitätsprodukte und -dienstleistungen mit hoher Technologieintensität und vergleichsweise starker Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes bedarf einer engen Abstimmung der Arbeitsmarktpolitik mit wirtschaftlichen und strukturellen Erfordernissen. Die unbedingt erhaltenswerte und international fast einzigartige Sozialpartnerschaft ist hier ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt.

Die Stellung Deutschlands als Hochlohnland mit weiterhin guten Sozialstandards erfordert in einer offenen Weltwirtschaft  kontinuierliche Investitionen in Menschen und Ideen, eine exzellente Infrastruktur, ebenso wie moderne Produktionsstätten, Ausrüstungen und ein kreatives Umfeld. Hochwertige Produkte und Dienstleistungen sind wissensintensiv und setzen ein hohes Qualifikationsniveau voraus, nicht nur auf den Führungsebenen. Agilität, Multitasking-Fähigkeiten, Teamfähigkeit und Änderungsbereitschaft werden auch immer mehr auf der Fachkraftebene gefragt sein.

Zukünftig wird es noch mehr darauf ankommen, die Qualität der Jobs zu verbessern, ohne dabei ihre Entstehung zu gefährden. Ein Ansatzpunkt ist, die Durchlässigkeit weg von unsicheren, schlechter bezahlten, perspektivarmen Jobs hin zu gut bezahlten, sicheren und attraktiven Arbeitsplätzen mit Aufstiegschancen zu erhöhen. Das kann nur mit einer kombinierten Strategie gelingen, die Elemente der Qualifizierung und verbesserten Passung sowie der Mobilität und Flexibilität miteinander verknüpft.

Wo sich die Stellschrauben finden

Aus den skizzierten Problemen und Herausforderungen lassen sich Handlungsoptionen ableiten, die sich auf verschiedenste Forschungsergebnisse stützen:

Den harten Kern der Arbeitslosigkeit aufbrechen

Die hohe Zahl an Langzeitarbeitslosen und Langzeitleistungsbeziehern stellt zweifellos eines der größten Probleme am Arbeitsmarkt dar. Zu den mit der Agenda 2010 eingeführten Prinzipien des konsequenten Forderns und des systematischen Förderns der Leistungsempfänger gibt es keine Alternative. Das Umfeld ist derzeit günstig, und die Möglichkeiten, den harten Kern der Arbeitslosigkeit aufzubrechen, sind nicht ausgeschöpft.

Wichtig ist zunächst, die Fallzahlen der Vermittler und Fallmanager zu reduzieren, um so den Betreuungsschlüssel für Langzeitarbeitslose zu verbessern. Durch die komplexen Problemlagen der Betroffenen, die einer direkten Vermittlung im Weg stehen, sind individualisierte, zeitintensivere Betreuungsmodelle nötiger denn je.

Auch die Qualität der Jobs und die damit häufig in Verbindung stehenden weiteren Entfaltungsmöglichkeiten im Erwerbsleben sollten stärker in den Fokus genommen werden. Bei einer guten Erfolgsprognose sollte abschlussorientierten Qualifizierungen gerade auch bei Empfängern von Grundsicherungsleistungen soweit wie möglich ein Vorrang vor einer möglichst schnellen Vermittlung in den Arbeitsmarkt eingeräumt werden.

Darüber hinaus geht es auch darum, durch kontinuierliche Weiterbildungsmöglichkeiten die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Leistungsbezieher im Sinne einer Aufwärtsmobilität fachspezifisches und übergreifendes Wissen aufbauen oder up to  date halten können, um so das Spektrum von Einsatzmöglichkeiten am Arbeitsmarkt zu erhalten oder zu erweitern. Auch der schon erprobte und von Seiten der Wissenschaft begleitete Einsatz von professionellen und ehrenamtlichen Coaches vor und nach der Arbeitsmarkteingliederung sollte angesichts der bisher guten Erfahrungen erweitert werden, um nachhaltige Integrationen in den Arbeitsmarkt zu erreichen.

Bedenkenswert wäre auch, die in den letzten Jahren stark zurückgefahrene Förderung der beruflichen Selbständigkeit wiederzubeleben und flexibel einzusetzen. Die Wirkungsforschung hat klar gezeigt, dass Gründungsförderung positive Eingliederungseffekte mit sich bringen kann. Gerade Personen, die nicht so leicht eine Beschäftigung finden, könnten so den Anschluss an die Erwerbsarbeit halten. In nicht wenigen Fällen könnte sich damit gerade die Förderung niedrigschwelliger Gründungen im SGB II – ähnlich wie die seinerzeitige „Ich-AG“ – als Alternative oder auch Brücke zur abhängigen Beschäftigung erweisen. Insbesondere auch für Geflüchtete könnte es eine Option sein, ihre Kompetenzen in einer Gründung einzusetzen, da für sie der Übergang in abhängige Beschäftigung durch fehlende Zertifikate oder die spezifische berufsfachliche Gliederung in Deutschland erschwert werden.

Bei realistischer Betrachtung wird es allerdings auch Menschen geben, denen auch nach Ausschöpfung aller arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten eine Integration nicht gelingen wird. Zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe bedarf es hier als Ultima Ratio eines sozialen Arbeitsmarktes, der diesen Menschen für einen längeren Zeitraum öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse bietet. Wichtig sind in diesem Kontext eine strikte Begrenzung des Teilnehmerkreises auf besonders schwer vermittelbare Personen sowie die Beibehaltung und Förderung aller Optionen eines Übergangs in reguläre Beschäftigung.

Um bisher in der Leistungsbearbeitung gebundene Ressourcen für eine intensivere Betreuung frei zu machen, sollten in der Grundsicherung Bagatellgrenzen, stärkere Pauschalisierungen und andere administrative Vereinfachungen in Erwägung gezogen werden. Nichtsdestoweniger erfordern die vorgeschlagenen Maßnahmen auch eine klar verbesserte finanzielle Ausstattung der Eingliederungsmöglichkeiten in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Investitionen jetzt und heute hatten selten ein besseres Umfeld und werden sich am Arbeitsmarkt mittel- und längerfristig auszahlen.

Das bedingungslose Grundeinkommen hingegen ist kein gangbarer Weg, um dem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts entgegen zu wirken. Hilfreich wäre im Gegensatz dazu eine bessere Versorgung mit sozialen Gemeingütern, von der insbesondere Menschen im Leistungsbezug oder mit niedrigen Einkommen profitieren würden. Hierzu zählen beispielsweise bezahlbarer Wohnraum, ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr, preisgünstige Kinderbetreuung und Pflege sowie ein kostengünstiger Zugang zu Bildungseinrichtungen wie Bibliotheken und Volkshochschulen. Die Abhängigkeit von der Grundsicherung könnte auch reduziert werden, wenn das Wohngeld oder Kindergeldzuschläge aufgestockt würden und damit stärker den realen Bedarfen entsprächen.

Vorbeugung durch nachhaltige Stärkung von Bildung und Qualifizierung

Die Digitalisierung wird Wirtschaft und Arbeitsmarkt massiv verändern. Das muss aber nicht bedeuten, dass dadurch weniger Arbeitsplätze vorhanden sein werden als heute. Entscheidend wird sein, ob und wie wir den Strukturwandel bewältigen. Neue Tätigkeiten und Berufe werden entstehen, bestehende Berufe sich verändern, an Bedeutung gewinnen oder auch verlieren. Der Qualifizierung kommt in diesem Prozess die Schlüsselrolle schlechthin zu. Dabei gilt: Wer das Lernen gelernt hat, wird sich auch neue Tätigkeiten schneller erschließen können, wenn alte wegbrechen.

Ein Ansatzpunkt ist die Stärkung abschlussorientierter Qualifizierungen jenseits des Kreises der Arbeitslosen. Zwei Zielgruppen sind dabei besonders in den Blick zu nehmen: lernschwächere Jugendliche sowie junge Menschen mit unzureichenden Sprachkenntnissen, die befähigt werden sollen, eine Erstausbildung zu absolvieren, sowie geringqualifizierte Beschäftigte, die quasi nachgeschult werden. Für beide Gruppen kommen auch modularisierte und zertifizierte schulische und betriebliche Ausbildungen in Betracht. Diese dürfen nicht als Schmalspurausbildungen verstanden werden, sondern müssen am Ziel eines vollqualifizierenden Abschlusses festhalten, aber gleichzeitig die Möglichkeit bieten, Zeit und Volumen des Lernens zu individualisieren. Gute pädagogische Konzepte und begleitendes Coaching während der Ausbildung könnten helfen, die Qualifizierung mit Erfolg abzuschließen und zu gelingenden Übergängen beizutragen.

Potenzielle Zielgruppen für abschlussorientierte Qualifizierungen berichten in Befragungen des IAB häufig, dass für sie längere Weiterbildungen nicht in Frage kämen, weil sie sich einen längeren Verdienstausfall nicht leisten könnten. Die Bereitschaft, eine Ausbildung zu absolvieren, könnte bei Leistungsempfängern daher durch verbesserte Einkommensanreize für die Teilnahme an den Qualifizierungsmaßnahmen belohnt werden. Denkbar wären beispielsweise höhere Lohnersatzleistungen als beim Arbeitslosengeld. Die Höhe der Aufschläge könnte sich ungefähr an den für den Leistungsbezug unschädlichen Hinzuverdienstgrenzen im SGB II orientieren. Die Ausbildungsbeteiligung könnte zudem durch vermehrte Ausbildungsangebote in Teilzeit erhöht werden. Adressaten dieser Angebote sind insbesondere junge Eltern, die neben der Erziehung ihrer Kinder berufliche Qualifikationen erwerben möchten.

Von höchster Bedeutung ist nicht zuletzt die Prävention: Bildungsarmut darf möglichst gar nicht erst entstehen. Leider ist Deutschland heute noch immer durch eine hohe Vererbung von Bildungsarmut gekennzeichnet. Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken, sind die Förderung frühkindlicher Bildung und des Spracherwerbs, der Ausbau von Ganztagsbetreuungsangeboten in den Schulen, einer weitere Verbesserung der Beratung im Übergang von der Schule in den Beruf sowie eine Ausweitung der Ausbildungs- und Weiterbildungsförderung. Zum einen bedarf es also eines ausreichend großen Angebots an kostenlosen oder kostengünstigen Kitas und an Ganztagsschulen, zum anderen geht es um Investitionen in die Qualität der Angebote und die besondere Unterstützung von Kindern aus SGB-II-Haushalten.

Auch eine intensivere Betreuung von benachteiligten Schulabgängern und der Einsatz assistierter Ausbildung in schwierigeren Fallkonstellationen sowie insgesamt eine umfassende und intensive Betreuung gerade junger Menschen unter einem Dach könnten stetige und nachhaltige Erwerbsbiografien befördern. Best Practice-Ansätze in den noch sehr unterschiedlich organisierten und betriebenen Jugendberufsagenturen sollten daher gestärkt werden.

Arbeitsanreize verbessern – das Steuer- und Transfersystem

Eines der wichtigsten Ziele einer grundlegenden Reform des Steuer- und Transfersystems sollte sein, den Beschäftigten, die dies möchten, eine längere Arbeitszeit zu ermöglichen und bessere Voraussetzungen für Jobs in Vollzeit zu schaffen. Im bestehenden System sind hier Fehlanreize angelegt.

Das bestehende Ehegattensplitting ist unter Arbeitsmarktgesichtspunkten nicht mehr zeitgemäß. Durch ein schrittweises Auslaufen des Ehegattensplittings mit angemessenen Bestandsschutzregelungen würden sich die heute bestehenden Anreize in Richtung Minijobs und einer damit verbundenen Deckelung der Arbeitszeiten spürbar verringern. Die eingesparten Mittel könnten für eine bessere finanzielle Unterstützung von Familien mit Kindern, zum Beispiel im Sinne eines sogenannten „Familiensplittings“, verbesserte Kinderbetreuungsangebote auch zu Randzeiten und substanzielle Bildungsinvestitionen verwandt werden.

Auch die derzeitigen Regelungen für Minijobs im Nebenjob können einer Verlängerung von Arbeitszeiten in der Hauptbeschäftigung im Weg stehen. Es ist im Grunde nicht zu rechtfertigen, Nebenjobs und Hauptjobs steuer- und abgabenrechtlich ungleich zu behandeln. Hier könnte man alternativ daran denken, den Anwendungsbereich der im Steuerrecht üblichen Bagatellgrenze für Einnahmen aus bestimmten Tätigkeiten, wie zum Beispiel für Übungsleiter in Sportvereinen, auf alle Nebentätigkeiten zu erweitern.

Da ist aber noch ein weiteres Problem: In einigen Bereichen wie dem Reinigungsgewerbe oder der Gastronomie gibt es relativ viele Minijobs und vergleichsweise wenige sozialversicherungspflichtige Jobs. Die Folge ist, dass die Hürden für existenzsichernde Integrationen von Arbeitslosen in solchen Bereichen höher sind, als sie es sonst wären. Vor diesem Hintergrund war die letzte Erhöhung des Minijob-Schwellenwertes auf 450 Euro keine Hilfe.

Durch das Zurückfahren steuerlicher Vergünstigungen bei den Minijobs könnten Mittel frei werden, um Anreize für eine Ausweitung von Arbeitszeiten und zur Schaffung neuer Tätigkeiten für Personen mit geringen Einkommen zu setzen. Die Mittel könnten für eine stärker degressive Ausgestaltung der Sozialversicherungsbeiträge verwendet werden, die nicht – wie bei der Besteuerung der sogenannten Midi-Jobs – vorrangig niedrige Monatslöhne (insbesondere in Teilzeit) besser stellt, sondern verstärkt auch geringe Stundenlöhne in Vollzeitarbeit fördert. Da selbst vollzeitbeschäftigte Geringverdiener aufgrund niedriger Bruttoeinkommen ohnehin häufig nur wenig Steuern zahlen, würden sie von Zuschüssen zum Arbeitnehmerbeitrag der Sozialversicherung am stärksten profitieren.

Beschäftigung konsequenter fördern

Arbeitsmarkt- und Rentenreformen haben in den letzten beiden Dekaden die Weichen überwiegend in Richtung einer verlängerten Lebensarbeitszeit gestellt. Heute ist festzustellen, dass sich die Erwerbstätigkeit älterer Personen deutlich erhöht hat. Angesichts der durchschnittlichen Alterung des Erwerbspersonenpotenzials ist dies auch geboten. Vor diesem Hintergrund dürfen sich kontraproduktive Entscheidungen wie die „Rente mit 63“ nicht wiederholen. Aufgrund der weiter steigenden Lebenserwartung müssen in Zukunft Akzente gesetzt werden, die den veränderten individuellen Präferenzen ebenso Rechnung tragen wie einer auskömmlichen Finanzierung der Alterssicherung. Im Einzelnen geht es dabei um die Abschaffung der verpflichtenden Erwerbsaustrittsregelungen und um passende Rahmenbedingungen, die eine Weiterbeschäftigung nach Erreichen der Regelaltersgrenze ermöglichen.

Oft stehen kleine und mittlere Unternehmen vor besonderen personalpolitischen Schwierigkeiten. Gerade wegen vielfach fehlender Kapazitäten für eine professionelle Personalarbeit wären systematische Unterstützungsangebote bei der Rekrutierung von Fachkräften sowie gezielte und mit den Akteuren gut abgestimmte Weiterbildungsangebote und -beratungen hilfreich. Auch interessierten Beschäftigten sollten gezielte Beratungsangebote gemacht werden, soweit diese nicht von anderer Seite geleistet werden können.

Klares Bekenntnis zur qualifizierten Einwanderung

Zur längerfristigen Stabilisierung des Erwerbspersonenpotenzials ist die Zuwanderung der stärkste Hebel. Für eine nachhaltige Entwicklung bedarf es eines klaren Bekenntnisses von Gesellschaft und Politik zur Einwanderung qualifizierter Fachkräfte. Wesentlich sind in diesem Zusammenhang auch verbesserte Anreizstrukturen und Rahmenbedingungen für den Zuzug qualifizierter Migranten. Hierzu zählen der systematische Ausbau von Sprachkursen im Ausland, uneingeschränkte Aufenthalts- und Arbeitstitel für ausländische Hochschulabsolventen und Familienangehörige von Migranten sowie eine deutliche Reduzierung von Einkommensgrenzen bei der Blue Card –  gerade auch, um für junge Fachkräfte attraktiv zu sein. Bedenkenswert wäre die Einführung eines international sichtbaren Punktesystems nach kanadischem Vorbild, mit dem qualifizierte Personen stärker auf Deutschland aufmerksam gemacht und damit leichter gewonnen warden können.

Bei der Integration der insbesondere in den letzten Jahren nach Deutschland gekommenen Geflüchteten in den Arbeitsmarkt kann und sollte Deutschland Vorbild sein. Um diese Rolle auszufüllen, bedarf es intensiver und nachhaltiger Anstrengungen. Sprachförderung, professionelle Beratung und Begleitung, ausreichende Investitionen in Bildung und Ausbildung, ein passgenauer Einsatz der geeigneten arbeitsmarktpolitischen Instrumente und die Aufnahmefähigkeit der Wirtschaft werden für den Erfolg in Zukunft entscheidend sein.

Für geduldete und (noch) nicht anerkannte Fluchtmigranten, die schon länger im Land sind und sich erkennbar gut und nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren konnten, sollte im Sinne von Planungssicherheit für die Menschen und deren Betriebe die Möglichkeit eines Spurwechsels in Richtung erwerbsorientierter Zuwanderung erwogen werden. Ausgangspunkt könnten dabei die Zugangsbedingungen für die Migration qualifizierter Zuwanderer sein.

Den Strukturwandel begleiten und gestalten – Modernisierung der Rahmenbedingungen von Arbeit

Der Wandel hin zu einer digitalisierten Arbeitswelt geht für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen mit neuen Herausforderungen einher: Sowohl von den Unternehmen als auch von den Beschäftigten ist ein hohes Maß an Flexibilität aufzubringen. Daher müssen auch die Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung von Arbeit überprüft werden.

Gesetzliche Rahmenbedingungen für „Heimarbeiter“, zu denen im 21. Jahrhundert auch die „Crowd- und Clickworker“ zählen, müssen an das Arbeiten 4.0 angepasst werden. Zu nennen ist hier beispielsweise die soziale Absicherung neuer Beschäftigungsformen, für die im gesellschaftlichen Diskurs Lösungen gefunden werden müssen. In diesem Zusammenhang sollten insbesondere Selbstständige in den Blick genommen und über geeignete Formen einer sozialen Mindestabsicherung diskutiert werden.

Um im Rahmen der Digitalisierungsdebatte neue Arbeitsmodelle zu entwickeln, stellt die Erprobung in sogenannten Experimentierräumen einen sinnvollen Rahmen dar. Die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort sollten die in Deutschland so vorbildlich agierenden Sozialpartner in enger Abstimmung und angemessener Weise ausgestalten.

Worauf es jetzt ankommt – das Fazit

Noch einmal zusammengefasst: Der Arbeitsmarkt ist derzeit in einer ausgesprochen guten Verfassung. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass  gerade jetzt entscheidende Weichen gestellt werden müssen, um weiter notwendige Fortschritte zu erzielen und für kommende Krisen gerüstet zu sein. Voraussetzung ist, dass wir die Probleme erkennen, annehmen und Lösungen gestalten. Es sind derzeit aber nicht die großen Reformwürfe, die uns voranbringen, sondern eine stärkere und konsequentere Orientierung an den Prinzipien Vorbeugen, Gestalten und Begleiten. Die großen gesellschaftlichen Entwicklungen, die mit den Stichworten Demografie, Digitalisierung und Globalisierung zusammengefasst werden können, spiegeln sich in den zentralen Handlungsfeldern der Arbeitsmarktpolitik wider, die angegangen werden müssen: dem Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit, einer Qualifizierungsoffensive in Anbetracht des durch die Digitalisierung vorangetriebenen Strukturwandels, einem beschäftigungsfreundlicheren Steuer- und Transfersystem und einem modernen Einwanderungsrecht.

Letztendlich sind dies alles auch Stellschrauben, um der in letzter Zeit stärker wahrgenommenen Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhaltes entgegenzuwirken. Der Arbeitsmarkt ist immer Teil der Lösung, wenn es um die drängendsten Fragen in unserer Gesellschaft geht. Denn „Arbeit“ ist mehr als Broterwerb, ist identitätsstiftendes Moment in unserer Gesellschaft und entscheidend für das Gefühl „Ich werde gebraucht und gehöre dazu“.

 

Literatur

Bauer, Frank; Fertig, Michael; Fuchs, Philipp (2016): „Modellprojekte öffentlich geförderte Beschäftigung“ in NRW: Teilnehmerauswahl und professionelle Begleitung machen den Unterschied. IAB-Kurzbericht Nr. 10.

Beste, Jonas; Bruckmeier, Kerstin; Klingert, Isabell; Kupka, Peter; Lietzmann, Torsten; Moczall, Andreas; Osiander, Christopher; vom Berge, Philipp; Wolff, Joachim (2017): Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit. IAB-Stellungnahme Nr. 2.

Brücker, Herbert; Rother, Nina; Schupp, Jürgen; Babka von Gostomski, Christian; Böhm, Axel; Fendel, Tanja; Friedrich, Martin; Giesselmann, Marco; Holst, Elke; Kosyakova, Yuliya; Kroh, Martin; Liebau, Elisabeth; Richter, David; Romiti, Agnese; Schacht, Diana; Scheible, Jana A.; Schmelzer, Paul; Siegert, Manuel; Sirries, Steffen; Trübswetter, Parvati; Vallizadeh, Ehsan (2016): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Flucht, Ankunft in Deutschland und erste Schritte der Integration. IAB-Kurzbericht Nr. 24.

Christoph, Bernhard; Gundert, Stefanie; Hirseland, Andreas; Hohendanner, Christian; Hohmeyer, Katrin; Ramos Lobato, Philipp (2015): Ein-Euro-Jobs und Beschäftigungszuschuss: Mehr soziale Teilhabe durch geförderte Beschäftigung? IAB-Kurzbericht Nr. 3.

Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt. Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland. IAB-Forschungsbericht Nr. 11.

Fertig, Michael (2015): Quantitative Wirkungsanalysen zur Berliner Joboffensive. Endbericht zum 5. Mai 2015. Vorgelegt von ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH, Köln. IAB-Forschungsbericht Nr. 6.

Fuchs, Johann; Hummel, Markus; Hutter, Christian; Klinger, Sabine; Wanger, Susanne; Weber, Enzo; Zika, Gerd (2017): IAB-Prognose für 2017/2018: Arbeitsvolumen so hoch wie nie. IAB-Kurzbericht Nr. 21.

Fuchs, Johann; Söhnlein, Doris; Weber, Brigitte (2017): Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Arbeitskräfteangebot sinkt auch bei hoher Zuwanderung. IAB-Kurzbericht Nr. 6.

Klinger, Sabine; Weber, Enzo (2017): Zweitbeschäftigungen in Deutschland: Immer mehr Menschen haben einen Nebenjob. IAB-Kurzbericht Nr. 22.

Kupka, Peter; Wolff, Joachim (2013): Verbesserung der Chancen von Langzeitarbeitslosen – Zur Einrichtung eines Sozialen Arbeitsmarktes oder eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors. Öffentliche Anhörung von Sachverständigen vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags am 15. April 2013. IAB-Stellungnahme Nr. 2.

Möller, Joachim (2017): Welche Wachstumspotenziale lassen sich über das Arbeitsangebot erschließen? In: Wirtschaftsdienst, 97. Jg., H. Sonderheft, S. 17-24.

Möller, Joachim (Hrsg.); Walwei, Ulrich (Hrsg.) (2017): Arbeitsmarkt kompak. Analysen, Daten, Fakten. IAB-Bibliothek 363, Bielefeld: Bertelsmann.

Osiander, Christopher; Dietz, Martin (2016): Determinanten der Weiterbildungsbereitschaft: Ergebnisse eines faktoriellen Surveys unter Arbeitslosen. In: Journal for Labour Market Research, Vol. 49, No. 1, S. 59-76.

Promberger, Markus (2017): Resilience among vulnerable households in Europe * Questions, concept, findings and implications. IAB-Discussion Paper Nr. 12.

Röttger, Christof; Weber, Brigitte; Weber, Enzo (2017): Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten. Aktuelle Daten und Indikatoren. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg.

Walwei, Ulrich (2017): Agenda 2010 und Arbeitsmarkt. Eine Bilanz. In: Politik und Zeitgeschichte, 67 Jg., Heft 26, S. 25-33.

Wolter, Marc Ingo; Mönnig, Anke; Hummel, Markus; Weber, Enzo; Zika, Gerd; Helmrich, Robert; Maier, Tobias; Neuber-Pohl, Caroline; (2016): Wirtschaft 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Ökonomie. Szenario-Rechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen. IAB-Forschungsbericht Nr. 13.

 

Diese Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de