Corona-Krise, Digitalisierung, ökologische Transformation, demografischer Wandel und in jüngster Zeit auch ein massiver Inflationsschub – Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Dem muss sich nicht nur die neue Bundesregierung stellen, sondern auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Im Interview zeigen sich die Gewerkschafterin Anja Piel und die Arbeitgebervertreterin Christina Ramb darin einig, dass die Sozialpartner den notwendigen Umbau von Wirtschaft und Arbeitsmarkt nur gemeinsam meistern können.

Sie kennen, schätzen und duzen sich: Anja Piel (oben links im Bild), Vorstandsmitglied im Deutschen Gewerkschaftsbund, und Christina Ramb, Mitglied der Hauptgeschäftsführung bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Beide sind zudem alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit. In dieser Funktion setzen sie aus Überzeugung auf Kooperation und Interessenausgleich und pflegen eine sachlich-konstruktive Diskussionskultur.

Doch die Gemeinsamkeiten gehen weit über Stilfragen hinaus. Denn auch inhaltlich eint die beiden Frauen mehr, als sie trennt. So sind etwa attraktive Arbeitsbedingungen für Piel und Ramb gleichermaßen eine unerlässliche Voraussetzung dafür, um qualifizierte Fachkräfte zu finden und zu binden. Und beide möchten beispielsweise den Jobcentern mehr Geld geben, damit diese Langzeitarbeitslose besser betreuen können. Beim ökologischen Umbau der Wirtschaft überwiegen ebenfalls die Gemeinsamkeiten. So sind höhere Schulden für mehr staatliche Investitionen in den Klimaschutz auch für die Arbeitgeberseite kein Tabu mehr.

Zunächst ein Blick zurück: Was hätte man aus Ihrer Sicht in der Corona-Krise besser oder anders machen müssen?

Ramb: Bei der Digitalisierung der Verwaltung gab es Defizite, insbesondere im Gesundheitswesen und in den Schulen. Auch Berufsorientierung konnte daher weitgehend noch nicht einmal in virtuellen Formaten stattfinden.

Piel: Wir hätten uns gewünscht, dass die Verlängerung und Aufstockung des Kurzarbeitergeldes wie auch die Verlängerung des Arbeitslosengeldes in der Krise länger beibehalten worden wäre. Aus unserer Sicht war auch die befristete Mehrwertsteuersenkung nicht das richtige Instrument zur Stärkung der Kaufkraft. Eine direkte Unterstützung des Konsums wäre besser gewesen, wie das Beispiel der USA zeigt.

Piel: „Die befristete Mehrwertsteuersenkung war für uns nicht das richtige Instrument zur Stärkung der Kaufkraft“

Was sollte die neue Bundesregierung am Arbeitsmarkt als erstes anpacken?

Piel: Wir brauchen mehr Qualifizierung für Arbeitslose im SGB II und im SGB III, aber auch für Beschäftigte, die von der digitalen und ökologischen Transformation betroffen sind. Gleichzeitig muss die neue Bundesregierung entschieden gegen Erwerbsarmut und prekäre Arbeitsverhältnisse vorgehen.

Ramb: In der Arbeitslosenversicherung sollte die Qualifizierungsförderung von Beschäftigten deutlich vereinfacht werden. Außerdem brauchen wir zur Fachkräftesicherung eine verstärkte und vereinfachte Zuwanderung insbesondere aus Drittstaaten. Hier sind wir uns mit den Gewerkschaften einig, dass für diese Menschen gute Arbeitsbedingungen sichergestellt sein müssen.

Eine Herausforderung, vor der die neue Bundesregierung steht, ist die Digitalisierung. Da scheiden sich aber durchaus die Geister. Die einen befürchten dadurch schwere Verwerfungen für den Arbeitsmarkt, die anderen sehen eher die Chancen. Wo würden Sie sich in der Debatte verorten? Und was müssten wir tun, damit die Digitalisierung nicht zum Jobkiller wird?

Ramb: Es hängt davon ab, wie wir damit umgehen. Hier kommt der Arbeitsmarktpolitik, insbesondere der Bundesagentur für Arbeit, enorme Bedeutung zu. Es geht darum, die Betroffenen passgenau weiterzuvermitteln und weiterzuqualifizieren. Die Vernetzung der Arbeitsmarktakteure ist dabei zentral. Zudem müssen in den Betrieben immer auch die Beschäftigten und die Betriebsräte einbezogen werden in die entsprechenden Entwicklungen.

Piel: Dem stimme ich zu. Sozialpartnerschaftliches Engagement ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg des digitalen Umbaus. Ein Jobkiller wird die Digitalisierung nur dann, wenn sie verschlafen wird. Wir können es uns einfach nicht leisten, wenn wir viel zu wenig Frauen in den MINT-Berufen haben oder viele Jugendliche nicht einmal einen schulischen Abschluss haben. Und natürlich muss die Politik für den Ausbau der digitalen Infrastruktur viel mehr Geld in die Hand nehmen.

VW-Chef Herbert Diess hat jüngst beklagt, dass das Tempo der Energiewende viel zu langsam sei, sogar von einer „Schockstarre“ gesprochen und auch einen deutlich früheren Kohleausstieg gefordert. Konkret auf den Arbeitsmarkt bezogen: Wenn wir Arbeitsplätze in Deutschland erhalten wollen, brauchen wir dann mehr Tempo bei der Energiewende? Oder würde ein zu schneller Umstieg eher Beschäftigung gefährden?

Piel: Wir haben mit diesen Transformationsprozessen ein dickes Brett zu bohren. Die Frage des Tempos hängt auch davon ab, dass dadurch gute Arbeitsbedingungen und Sicherheitsversprechen nicht auf der Strecke bleiben. Das müssen wir auch in der Sozialpartnerschaft immer im Blick behalten. Aber auch die Unternehmen sind hier gefragt: Sie dürfen sich nicht über Fachkräftemangel beklagen und gleichzeitig die Weiterbildung ihrer Belegschaften vernachlässigen. Wir müssen auch über den staatlichen Anteil beim ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft reden. Neue Schulden für Investitionen in den Klimaschutz aufzunehmen, wohlgemerkt nicht für konsumtive Zwecke, darf kein Tabu sein. Das sehen ja inzwischen auch die Arbeitgeberverbände so. Und wichtiger noch als Ausstiegsdaten festzulegen ist für mich, dass man erst überhaupt einmal damit anfängt, kräftig zu investieren. Ich erinnere daran, dass die früheren Prognosen zum Ausbau der Windkraft später deutlich übertroffen wurden.

Ramb: Für die Wirtschaft ist immer entscheidend, dass es bei der Energiewende einen parteiübergreifenden Konsens gibt, der dann auch eingehalten wird – Stichwort Planungssicherheit. Am Arbeitsmarkt wird es darum gehen, den hohen Fachkräftebedarf in manchen Branchen und die in anderen Branchen durch den Strukturwandel freiwerdenden Arbeitskräfte zusammenzubringen. Da braucht es neben entsprechender Qualifizierung auch attraktive Arbeitsplätze, um Beschäftigten gegebenenfalls den Wechsel zu erleichtern.

Ramb: „Für die Wirtschaft ist immer entscheidend, dass es bei der Energiewende einen parteiübergreifenden Konsens gibt, der dann auch eingehalten wird“

In den kommenden Jahren werden wesentlich mehr Ältere den Arbeitsmarkt verlassen, als Jüngere hinzukommen. Wird das den Arbeitsmarkt eher ent- oder belasten?

Ramb: Auch da kommt es darauf an, dass wir reagieren. In bestimmten Segmenten wie der Pflege, wo sich bislang auch nur sehr begrenzt Tätigkeiten digitalisieren lassen, wird der Fachkräftebedarf wegen des demografischen Wandels sogar noch zunehmen. In solchen Bereichen brauchen wir auf jeden Fall Zuwanderung aus dem Ausland. Und wir müssen dafür sorgen, dass das Erfolgsmodell der dualen Ausbildung attraktiv bleibt, denn die Bewerberzahlen sinken. Zugleich haben wir immer noch viel zu viele Langzeitarbeitslose. Wir brauchen mehr Fachkräfte in den Jobcentern, die diese Gruppe intensiv betreuen, denn in der Vergangenheit war der Eingliederungstitel zu niedrig.

Aber kann der demografische Wandel auch dazu beitragen, dass die Langzeitarbeitslosigkeit sinkt?

Ramb: Das ist auch eine Frage des Matchings. Ich glaube aber schon, dass Arbeitgeber Langzeitarbeitslosen heute eher eine Chance geben, sich zu bewähren als früher. Das hängt auch mit den verbesserten Unterstützungsmöglichkeiten zusammen, zum Beispiel aus dem Teilhabechancengesetz.

Piel: Da würde ich gegenhalten. Weniger Erwerbspersonen bedeutet nicht zwangsläufig weniger Arbeitslosigkeit. Der demografische Wandel wird es uns nicht ersparen, dass wir Menschen präventiv vor Arbeitslosigkeit schützen.

Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), hat jüngst argumentiert, dass Arbeitskräftemangel die Wirtschaft zwingt, sich zu modernisieren – was wiederum zu „besseren Arbeitsplätzen, mehr Wertschätzung, einer höhere Lohnquote und dadurch auch zu mehr Steuereinnahmen“ führt. Hat er recht?

Ramb: Fachkräftesicherung ist einer der zentralen Herausforderungen der Zukunft, auch wegen der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme. Arbeitgeberattraktivität ist deshalb seit Längerem ein wichtiges Thema, um Fachkräfte zu finden und zu binden. Dazu gehört eine wertschätzende Unternehmenskultur und gute Arbeitsbedingungen. Das hilft aber nicht, um in Deutschland insgesamt ausreichend Fachkräfte zu haben. Dazu benötigen wir weitere Maßnahmen: gute Berufsorientierung, Stärkung der dualen Ausbildung, lebenslange Weiterbildung, gezielte Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, Inklusion und Integration am Arbeitsmarkt.

Piel: Ich glaube, die aktuellen Ereignisse in Großbritannien zeigen, dass wir mit solchen Annahmen wie denen von Herrn Fratzscher eher vorsichtig sein müssen: Der durch die Brexit-Politik ausgelöste Fachkräftemangel im Transportgewerbe lässt Lieferketten kollabieren. Hier wird ganz klar, dass Politik sich bei diesem Thema nicht in der Hoffnung auf eine Modernisierung der Wirtschaft im Alleingang zurücklehnen darf. Einen solchen Automatismus wird es nicht geben.

Manche Ökonomen erwarten angesichts der in jüngster Zeit stark anziehenden Inflation und wachsender Engpässe am Arbeitsmarkt in naher Zukunft eine Lohn-Preis-Spirale? Teilen Sie diese Einschätzung?

Piel: Ich glaube nicht an eine Lohn-Preis-Spirale. Gleichwohl sind Reallohnverluste aus Sicht der Gewerkschaften in den kommenden Tarifverhandlungen nicht mehr hinnehmbar. Angesichts der guten Gewinne können sich die Unternehmen kräftige Lohnerhöhungen auch leisten. Dadurch jedenfalls kommt noch lange keine Preisspirale in Gang.

Ramb: Nach Meinung vieler Ökonomen handelt es sich bei den Preissteigerungen der letzten und möglicherweise noch einiger folgender Wochen um ein temporäres Phänomen. Umso mehr gilt, dass wir vor einem lohnpolitischen Kurswechsel warnen, um auf Teuerungen zu reagieren. Hohe Rohstoffpreise verursachen zum Beispiel bei den Unternehmen enorme Kosten und keine zusätzlichen Gewinne. Es ist wichtig, dass gerade jetzt im Aufschwung die Lohnpolitik nun nicht ihrerseits als zusätzlicher Preistreiber wirkt.

Schludi, Martin (2021): Anja Piel und Christina Ramb setzen weiterhin auf die Sozialpartnerschaft, In: IAB-Forum 29. November 2021, https://www.iab-forum.de/anja-piel-und-christina-ramb-setzen-weiterhin-auf-die-sozialpartnerschaft/, Abrufdatum: 17. November 2024