11. April 2022 | IAB-Debattenbeiträge
Corona-Krise, Ukraine-Krieg und Stagflationsgefahr: Warum wir eine neue Angebotspolitik brauchen
Die Inflation in Deutschland lag im März dieses Jahres bei über sieben Prozent. Was für ein Unterschied zur Vor-Corona-Zeit, als Europa zeitweise an den Rand der Deflation geriet. Sicher, es gibt Sondereffekte, wie die ausgelaufene Mehrwertsteuersenkung und die ungewöhnlich niedrigen Preise, beispielsweise für Kraftstoffe, im Vergleichsjahr 2020. Insofern war eine gewisse Gegenbewegung bei der Preisentwicklung im vergangenen Jahr unvermeidlich. Aber schon vor dem Ukraine-Krieg hatte sich immer klarer abgezeichnet, dass wir uns angesichts hartnäckiger globaler Lieferengpässe für längere Zeit auf eine hohe Inflation einstellen müssen.
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Energiepreise noch einmal in die Höhe geschnellt, ebenso wie die Preise für andere Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte. Das wirkt sich zusätzlich auf die weitere Entwicklung der Inflation aus. So kam eine IAB-Studie von Marc Ingo Wolter und anderen bereits Anfang März zu dem Ergebnis, dass die Inflation selbst für das Gesamtjahr 2022 bei sieben Prozent liegen kann.
Die deutsche Wirtschaft arbeitet vielfach an der Kapazitätsgrenze
Über die vergangenen Monate zeigte sich, dass die Wirtschaft am Rande dessen arbeitet, was unter den derzeitigen Bedingungen und Beschränkungen möglich ist. Dazu zählen nicht nur Corona-Einschränkungen, sondern auch Engpässe bei Rohstoffen und Zwischenprodukten sowie die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften. Letztere betrifft die bekannten Bereiche wie IT, Technik, Handwerk, Pflege, Gesundheit und Erziehung, aber nun auch Krisenbranchen wie die Gastronomie. Der Arbeitskräfteknappheitsindex des IAB liegt bereits wieder über dem Stand vor der Corona-Krise.
Zwei Trends sprechen dafür, dass sich die Knappheit noch verschärfen wird: Erstens wird der Ausbau regenerativer Energien infolge des Ukraine-Kriegs noch einmal forciert. Für die ökologische Transformation werden Fachkräfte gerade im technischen und handwerklichen Bereich benötigt. Dass es hier knapp wird, zeigt eine aktuelle Analyse von Gerd Zika und anderen. Demnach könnten die Personalengpässe in diesem Bereich bereits die Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele und Maßnahmen zur Bau- und Klimapolitik merklich bremsen. Zweitens steht der deutsche Arbeitsmarkt mit der Verrentung der Babyboomer vor einer nicht zu unterschätzenden demografischen Schrumpfung.
Zur Krisenbekämpfung allein auf eine expansive Nachfragepolitik zu setzen, springt zu kurz
Stark steigende Preise und wachsende Engpässe – diesen Folgen der Corona-Krise und des Ukraine-Kriegs ist nicht wie anderen Rezessionen mit einer reinen expansiven Nachfragepolitik beizukommen. Dies gilt umso mehr, als Corona eine transformative Rezession ausgelöst hat, von der Christian Hutter und Enzo Weber schon 2020 in einem für den Wirtschaftsdienst verfassten Beitrag schrieben. Also nicht nur einen vorübergehenden Wirtschaftseinbruch wie etwa in der Weltfinanzkrise 2009, sondern eine erhebliche Beschleunigung des strukturellen und technologischen Wandels.
Das Gespenst der Stagflation macht die Runde, also schwaches Wirtschaftswachstum gepaart mit hoher Inflation, wie nach den Ölpreisschocks in der 1970er Jahren. Nun leben wir nicht mehr in der Siebzigern, aber dennoch brauchen wir die richtigen Mittel, um dieser Herausforderung effektiv zu begegnen. Es ist Zeit für eine Politik, die unsere wirtschaftlichen Potenziale erweitert, quantitativ und qualitativ. Eine Politik, die genau an den neuralgischen Punkten ansetzt, die Dynamik hemmen, aber auch entfesseln können. Es ist Zeit für Angebotspolitik.
Es wird ein Qualifizierungsschub benötigt, um die Arbeitsproduktivität zu steigern
Der spezielle transformative Charakter der Corona-Krise ändert die Anforderungen an die Beschäftigten. Die demografische Schrumpfung führt dazu, dass Wachstum über einen Zuwachs an Arbeitskräften perspektivisch nicht mehr möglich sein wird, sondern nur noch über Klasse statt Masse.
Damit erlangt Qualifizierung eine besondere Bedeutung. Beispielweise sind zusätzliche Weiterbildungsanreize für Arbeitslose und eine Förderung von Zweitausbildungen erforderlich, welche die berufliche Umorientierung auch für Menschen in der Mitte des Berufslebens finanziell absichert. Im Zuge der Transformation ist das gerade dann wichtig, wenn sich technisch versierte Arbeitskräfte beispielsweise in Richtung von Jobs beim Ausbau regenerativer Energien orientieren.
Qualifizierung kann das Potenzial für wirtschaftliches Wachstum erhöhen, wenn sich dadurch die Arbeitsproduktivität verbessert. Die Produktivität wiederum hat sich in den letzten Jahrzehnten eher schlecht als recht entwickelt. Um dies zu ändern, darf sich Weiterbildungspolitik nicht nur reaktiv daran orientieren, bestehende Defizite zu beheben. Sie muss viel stärker als bisher proaktiv angelegt sein und dazu beitragen, dass sich Beschäftigte kontinuierlich fortbilden können. Dabei sollte Weiterbildung soweit wie möglich in einem System mit der Erstausbildung integriert werden.
Auch die noch immer stark genutzte Kurzarbeit bietet potenziell Möglichkeiten der Qualifizierung, die aber bisher selten genutzt wurden. Um dies zu ändern, wird ein Konzept mit zeitlich möglichst flexiblen – auch virtuellen – Weiterbildungsformaten, Beratungsangeboten und finanziellen Anreizen benötigt.
Die duale Berufsausbildung muss attraktiver werden
Einen Schub braucht auch die duale Berufsausbildung. Diese gerät bereits seit Jahren ins Hintertreffen, verstärkt durch die Schwierigkeiten während der Covid-19-Pandemie. Dabei bietet das duale Ausbildungssystem mit seiner Kombination von Theorie und Praxis weltweit anerkannte Vorteile. Deshalb muss es darum gehen, Jugendliche noch stärker für eine Ausbildung zu motivieren und Kontakte zu Betrieben zu ermöglichen, wie Bernd Fitzenberger in einem aktuellen Gastbeitrag ausführt. Das umfasst intensivierte Berufsorientierung und Berufsberatung in den Schulen ebenso wie den verstärkten Einsatz betrieblicher Einstiegsqualifizierungen. Ein niederschwelliger, auch modularer, Einstieg in eine Ausbildung ist wichtig, um diejenigen zu erreichen, die bisher immer noch ohne Berufsabschluss bleiben.
Ausbildung muss also niederschwellig beginnen können, aber ebenso für Leistungsstärkere zu Zeiten des beschleunigten digitalen Wandels attraktiver werden. Dafür ist ein starkes Signal nötig, dass der betriebliche Weg fit macht für die digitalisierte Zukunft des Arbeitens. Der Autor dieses Beitrags schlägt in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen ein Ausbildungsprogramm 4.0 vor: Förderung der digitalen Ausstattung, didaktische und technische Schulung des Ausbildungspersonals sowie gezielte Beratungsangebote. Bei Ausstattung und neuen didaktischen Konzepten sollten auch die Berufsschulen in das Programm einbezogen werden.
Instrumente wie das Weiterbildungsgeld oder individuelle Lohnkostenzuschüsse können der drohenden Verfestigung von Arbeitslosigkeit entgegenwirken
Auch bei einigen Personengruppen, deren Situation sich durch die Corona-Krise teils deutlich verschlechtert hat, liegen noch erhebliche Potenziale brach. So hat sich die Langzeitarbeitslosigkeit deutlich erhöht. Hier besteht das Risiko einer Verfestigung, zumal ein starker Aufschwung angesichts der verlängerten Omikron-Welle und der Folgen des Ukraine-Kriegs zunächst einmal auszubleiben droht.
Ist eine Verfestigung – etwa durch die Entwertung von Arbeitserfahrungen oder durch Motivationsverlust – erst einmal eingetreten, sind Jobchancen und Arbeitskräftepotenzial dauerhaft geschmälert. Hier muss rechtzeitig gegengesteuert werden. Zusätzliche Anstrengungen für Qualifizierung und die Stärkung der Bereitschaft durch Anreize wie ein Weiterbildungsgeld können einer drohenden Verfestigung insbesondere in Zeiten starken strukturellen Wandels entgegenwirken.
Um Arbeitslose schnell wieder in Jobs zu bringen, sollten zudem individuelle Lohnkostenzuschüsse genutzt und bei Bedarf vorübergehend ausgeweitet werden. Davon haben bisher üblicherweise Personen mit Vermittlungshemmnissen profitiert. Künftig sollten bei professioneller Beurteilung der Risikolage auch Personen berücksichtigt werden, deren Arbeitslosigkeit sich aufgrund langwieriger Kriseneffekte zu verfestigen droht.
Es bedarf attraktiverer Rahmenbedingungen für Selbstständigkeit
Selbstständige sind in der Krise ebenfalls erheblich unter Druck geraten. Ihre Zahl befand sich allerdings schon lange vor der Krise im Sinkflug. Deshalb ist es wichtig, die Rahmenbedingungen für Selbstständige in vielfacher Hinsicht zu verbessern. Dazu beitragen könnte eine verstärkte und flexiblere Gründungsförderung auch aus der Arbeitslosigkeit heraus, vermehrte und einfachere Bereitstellung von Wagniskapital sowie die Möglichkeit einer sofortigen Verlustverrechnung mit Gewinnen vergangener oder künftiger Jahre. In der Ausbildung könnte zudem eine Entrepreneurship-Komponente den Blick für unternehmerisches Handeln schärfen.
Die abgabenrechtliche Privilegierung von geringfügiger Beschäftigung ist kontraproduktiv
Mit Abstand am stärksten zurückgegangen ist in der Covid-19-Pandemie die ausschließlich geringfügige Beschäftigung. Für den Wiederaufbau von Beschäftigung liegen hier Chancen, denn viele Minijobber möchten und könnten mehr arbeiten. Deshalb sollten Steuern und Abgaben so ausgestaltet werden, dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Vergleich attraktiver wird. Das würde die Anreize für längere Arbeitszeiten und Investitionen in die berufliche Entwicklung dieser Beschäftigten erhöhen – und damit auch deren Produktivität.
Arbeitsmigration nach Deutschland muss attraktiver und unbürokratischer werden
Der stärkste Hebel für das Arbeitskräftepotenzial liegt in der Migration. Um dieses konstant zu halten, würde selbst bei steigender Erwerbsbeteiligung ein jährlicher Migrationsüberschuss von gut 400.000 Personen benötigt. Da die im vergangenen Jahrzehnt relevanten Herkunftsländer vor allem im Osten der Europäischen Union demografisch noch stärker altern als Deutschland, wird eine offene Zuwanderungspolitik stärker auf Drittstaaten setzen müssen. Dazu gehören erweiterte Möglichkeiten beim Zuwanderungsrecht, wie sie auch der Koalitionsvertrag vorsieht. Zudem geht es um Transparenz, einfachere Abläufe und konkrete Hilfestellungen schon in den Herkunftsländern. Der Anerkennung von Bildungsabschlüssen kommt besondere Bedeutung zu, wie Herbert Brücker und andere in einem IAB-Kurzbericht aus dem Jahr 2021 argumentieren.
Migrationspolitik muss immer auch Integrationspolitik sein
Ein erhebliches Potenzial liegt zudem in einer verbesserten Integration. Denn viele Migrantinnen und Migranten arbeiten hierzulande unter ihren Möglichkeiten und erreichen damit nicht die Produktivität, die ihre Kompetenzen eigentlich hergeben. Und jährlich ziehen rund zehn Prozent der hier lebenden Menschen aus dem Ausland wieder aus Deutschland fort.
Auch wenn dies zu einem weltoffenen Land dazugehört, sind große Migrationsüberschüsse bei einer solch hohen Abwanderungsquote mittelfristig kaum erreichbar. Migrationspolitik muss also immer auch Integrationspolitik sein. Dazu gehören eine umfassende Unterstützung bei der Anerkennung von Kompetenzen und Abschlüssen sowie gezielte Qualifizierungen zur berufsbegleitenden Ergänzung fehlender Bausteine. Nicht zuletzt geht es um Sprachschulungen, Angebote zur Vollzeitkinderbetreuung oder ein Bleiberecht nach der Ausbildung.
Fazit
Qualifizierung und Ausbildung, Langzeitarbeitslosigkeit, Selbstständige, Minijobs, Migration und Integration – auf diesen Feldern können am Arbeitsmarkt wirtschaftliche Potenziale erweitert werden. Dabei geht es um ein höheres Arbeitsvolumen und gleichzeitig um eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Dies wiederum böte Raum für höhere Lohnabschlüsse, ohne dass es dadurch zu einer Lohn-Preis-Spirale kommen müsste. Eine solche Art von Angebotspolitik ist entscheidend, um aus der Dauerkrise herauszuwachsen. Aufgrund des Krieges in der Ukraine geht es zudem um direkte Wirtschaftshilfen (in einem weiteren aktuellen Beitrag für das IAB-Forum diskutiert Enzo Weber effektive Instrumente für die verschiedenen wirtschaftlichen Herausforderungen, die sich daraus ergeben).
Literatur
Brücker, Herbert; Glitz, Albrecht; Lerche, Adrian; Romiti, Agnese (2021): Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland: Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse hat positive Arbeitsmarkteffekte. IAB-Kurzbericht Nr. 2.
Fitzenberger, Bernd (2022): Bringt Jugendliche und Betriebe zusammen! In: Frankfurter Rundschau, 16.01.2022.
Hutter, Christian; Weber, Enzo (2020): Corona-Krise: die transformative Rezession. In: Wirtschaftsdienst, Vol. 100, No. 6, S. 429–431.
Weber, Enzo (2021): Es gibt keinen Weg zurück in die Zeit vor Corona. In: Wirtschaftswoche, 04.06.2021.
Weber, Enzo (2022): Wirtschaftshilfen zu Zeiten des Ukraine-Kriegs: Maßgeschneiderte Instrumente für multiple Herausforderungen. In: IAB-Forum, 08.04.2022.
Wolter, Marc Ingo; Helmrich, Robert; Maier, Tobias; Weber, Enzo; Zika, Gerd; Großmann, Anett; Dreuw, Peter (2022): Zeitenwende: Russischer Angriff auf die Ukraine. Herausforderungen für den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft – eine Sortierung. GWS Kurzmitteilung | Qube-Essay 2/2022.
Zika, Gerd; Maier, Tobias; Mönnig, Anke; Schneemann, Christian; Steeg, Stefanie; Weber, Enzo; Wolter, Marc Ingo; Krinitz, Jonas (2022): Die Folgen der neuen Klima- und Wohnungsbaupolitik des Koalitionsvertrags auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt. IAB-Forschungsbericht Nr. 3.
doi:10.48720/IAB.FOO.20220411.01
Weber, Enzo (2022): Corona-Krise, Ukraine-Krieg und Stagflationsgefahr: Warum wir eine neue Angebotspolitik brauchen, In: IAB-Forum 11. April 2022, https://www.iab-forum.de/corona-krise-ukraine-krieg-und-stagflationsgefahr-warum-wir-eine-neue-angebotspolitik-brauchen/, Abrufdatum: 18. November 2024
Autoren:
- Enzo Weber