22. September 2023 | Interviews
„Der Wirtschaftsabschwung hat sich in Deutschland festgesetzt“
Herr Weber, die prognostizierte Erholung der deutschen Wirtschaft lässt dieses Jahr auf sich warten. Woran liegt das?
Der Wirtschaftsabschwung hat sich in Deutschland festgesetzt. Die Inflation befindet sich immer noch auf hohem Niveau und fällt nur langsam, während die Zinsen steigen. Das beeinträchtigt natürlich den Konsum und auch das Baugewerbe. Hinzu kommt eine schwache Auslandsnachfrage. Die Erholung der Konjunktur setzt aus all diesen Gründen später ein, als wir noch zu Jahresbeginn angenommen hatten. Für dieses Jahr prognostizieren wir dementsprechend jetzt einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 0,6 Prozent.
Können wir 2024 optimistischer entgegenblicken?
Ja, davon gehen wir aus. Für nächstes Jahr erwarten wir eine niedrigere Inflation und damit einhergehend auch wieder eine wirtschaftliche Erholung mit einem Wachstum von 1,1 Prozent. Die Konjunkturdynamik sollte global wieder anziehen, und damit auch unser Außenhandel. Auch die Industrieproduktion dürfte sich wieder erholen. Die hohen Tarifabschlüsse und die Inflationsprämien unterstützen den Konsum. Das gilt auch für das neu eingeführte Bürgergeld. Es wird im Jahr 2024 noch einmal erhöht und unterstützt einkommensschwächere Haushalte.
Gemessen an der schwachen Konjunktur hält sich der Arbeitsmarkt vergleichsweise gut.
Lässt der aktuell noch anhaltende Wirtschaftsabschwung die Arbeitslosigkeit wieder steigen?
Der Arbeitsmarkt wird durch den anhaltenden Wirtschaftsabschwung natürlich beeinträchtigt. Gemessen an der schwachen Konjunktur hält er sich aber vergleichsweise gut. Die Zahl der Arbeitslosen wird unseren Prognosen zufolge dennoch um 190.000 in diesem und um 60.000 Personen im kommenden Jahr zunehmen. Das IAB-Arbeitsmarktbarometer signalisiert in den nächsten Monaten eine ungünstige Entwicklung für die Arbeitslosigkeit. Dies liegt auch daran, dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer derzeit noch an Integrationskursen und anderen Maßnahmen teilnehmen und anschließend auf Jobsuche gehen werden. Ich sehe aber die größere Herausforderung bei der Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit.
Warum?
Die Jobchancen von Arbeitslosen waren mit Pandemiebeginn eingeknickt, und haben sich seither nicht wieder erholt. Entsprechend liegt die Langzeitarbeitslosigkeit deutlich über dem Vor-Corona-Niveau – und das, obwohl wir insgesamt einen hohen Arbeitskräftebedarf haben. Die Arbeitslosigkeit von Niedrigqualifizierten liegt ebenfalls deutlich über dem Stand von 2019.
Die Langzeitarbeitslosigkeit liegt deutlich über dem Vor-Corona-Niveau.
Und trotzdem wächst die Beschäftigung. Wie lässt sich das erklären?
Die Erwerbstätigkeit reagiert in Deutschland seit der Weltfinanzkrise im Jahr 2009 wesentlich robuster auf konjunkturelle Schwankungen als davor. Angesichts der gestiegenen Arbeitskräfteknappheit versuchen viele Betriebe, ihre Beschäftigten selbst in konjunkturellen Schwächephasen zu halten. Diese grundsätzliche Stabilität kommt dem Arbeitsmarkt auch bei der Verarbeitung des wirtschaftlichen Schocks infolge des Krieges gegen die Ukraine zugute. Wir gehen davon aus, dass sich der Aufwärtstrend bei der Beschäftigung fortsetzen wird – aufgrund des nun mehrere Quartale anhaltenden Wirtschaftsabschwungs gibt es aber zunächst einen Dämpfer.
Rührt der Aufwärtstrend nicht auch vom sehr hohen Arbeitskräftebedarf in einigen Branchen her?
Ja. In der Pflege wächst der Bedarf aufgrund der Alterung, in der Erziehung mit dem Kita-Ausbau, im Handwerk unter anderem wegen der Energiewende und in der IT im Zuge der Digitalisierung. Begrenzt wird das Beschäftigungswachstum perspektivisch allerdings durch Personalengpässe in vielen Bereichen.
Notwendig ist ein expansives Transformationsprogramm, kein reines Konjunkturprogramm.
Worin sehen Sie die größte Herausforderung für den Arbeitsmarkt im kommenden Jahr?
Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung steht angesichts der konjunkturellen Schwäche, tiefgreifender Transformationen und der Arbeitskräfteknappheit vor mehrfachen Herausforderungen. Die grundsätzliche Arbeitskräfteknappheit dürfte sich mit der Verrentung der Babyboomer noch verschärfen. Der hohe Wettbewerb um Arbeitskräfte kann aber genutzt werden, um Potenziale im Arbeitsmarkt zu heben und zu einem produktiveren Einsatz der verfügbaren Arbeitskräfte zu kommen. Die grüne Transformation wie auch die intelligente Digitalisierung bergen Chancen auf Innovation, Technologieentwicklung und neue Wertschöpfung. Notwendig ist hierfür ein expansives Transformationsprogramm, kein reines Konjunkturprogramm. Dabei geht es um Investitionsförderung, Infrastruktur, Kompetenzentwicklung und Datenpolitik ebenso wie um eine umfassende Fachkräftesicherung.
Literatur
Bauer, Anja et al. (2023): IAB-Prognose 2023/2024: Konjunkturflaute dämpft den Arbeitsmarkt. IAB-Kurzbericht Nr. 18.
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20230922.01
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Autoren:
- Christiane Keitel