31. Juli 2020 | Betriebliche Arbeitswelt
Die Erwerbstätigkeit von Rentnerinnen und Rentnern zwischen Wunsch und Wirklichkeit
In den vergangenen Jahren ist die Erwerbsbeteiligung jenseits der 60 in Deutschland deutlich gestiegen. Von 2006 bis 2019 kletterte der Anteil der Erwerbstätigen zwischen 65 und 69 Jahren von 6,6 auf 17,9 Prozent. In der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen stieg der Anteil im selben Zeitraum laut European Labor Force Survey von 29,7 Prozent auf 61,7 Prozent. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit steht angesichts des demografischen Wandels schon seit vielen Jahren auf der politischen Agenda. Der Anstieg bestätigt also durchaus diesen Kurs. Die konkreten Auswirkungen der Corona-Krise auf den Arbeitsmarkt, auf den weiteren Fachkräftebedarf und damit auch auf die Beschäftigungschancen von Älteren sind indes noch unklar und müssen weiter beobachtet werden.
Aufschluss über individuelle Muster und Motive für eine Erwerbstätigkeit von Rentnerinnen und Rentnern bieten Daten aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS), die das IAB in einer Studie ausgewertet hat (eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse finden Sie im IAB-Kurzbericht 24/2018). Im Fokus der Studie standen Personen im Alter von 58 bis 71 Jahren, die zwischen 2012 und 2018 befragt worden sind und seit längstens drei Jahren eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder einem vergleichbaren Alterssicherungssystem bezogen hatten. Diese Einschränkung wurde vorgenommen, da aus früheren Studien, etwa einem 2014 im IAB-Forum erschienenen Beitrag von Carola Burkert und Daniela Hochfellner, bekannt ist, dass ein Großteil der erwerbstätigen Rentenbezieher ihre Erwerbsarbeit entweder unmittelbar nach dem Eintritt in den Ruhestand fortsetzt oder innerhalb der ersten drei Jahre nach Rentenbeginn wieder aufnimmt. Erfasst werden alle Tätigkeiten, die auf wirtschaftlichen Erwerb ausgerichtet sind. Der zeitliche Umfang spielt dabei keine Rolle.
Etwa jeder vierte Beschäftigte ist nach Renteneintritt weiterhin erwerbstätig
Über ein Viertel der hier betrachteten Rentnerinnen und Rentner geht laut der oben genannten IAB-Studie einer regelmäßigen bezahlten Beschäftigung nach (siehe Abbildung 1). Allerdings ist das bestehende Potenzial noch nicht ausgeschöpft: Von denjenigen, die aktuell keiner Erwerbsarbeit nachgehen, gibt circa jeder sechste an, dass er oder sie gerne wieder eine Erwerbsarbeit aufnehmen würde.
Zudem scheint für viele ältere Erwerbstätige der Renteneintritt unfreiwillig früh zu erfolgen. In der NEPS-Erwachsenenbefragung werden alle Rentenbezieherinnen und -bezieher, die bis unmittelbar vor Rentenbeginn erwerbstätig waren (das sind ca. 55 % der Frauen und 68 % der Männer), gefragt, ob es ihrem Wunsch entsprach, zu diesem Zeitpunkt in Rente zu gehen (siehe Abbildung 2). Immerhin 21 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer wären gern länger ihrer bisherigen Tätigkeit nachgegangen, hätten also den Zeitpunkt des Übergangs in die Rente gerne später vollzogen. In dieser Gruppe der unfreiwillig frühen Rentnerinnen und Rentner geht dann ein Großteil neben dem Rentenbezug weiter einer Erwerbstätigkeit nach, viele Erwerbswünsche bleiben aber unerfüllt.
Insbesondere Rentnerinnen mit niedrigen Einkommen würden gerne weiterarbeiten
Die Gründe, warum manche Rentnerinnen und Rentner keiner regelmäßigen Arbeit nachgehen, obwohl sie dies gerne würden, sind bisher unklar. Hier sind persönliche Faktoren wie gesundheitliche Einschränkungen ebenso denkbar wie mangelnde Beschäftigungschancen. Bislang ist dieses Phänomen weitestgehend unerforscht. Es können allerdings Gruppen identifiziert werden, bei denen unerfüllte Erwerbswünsche häufiger auftreten.
Unfreiwillige Nichterwerbstätigkeit betrifft sowohl Frauen als auch Männer, die bis zum Renteneintritt erwerbstätig waren, überproportional häufig. Deren Anteil liegt bei jeweils 17 Prozent (siehe Abbildung 3). Im Vergleich dazu haben in der Gruppe derjenigen, die nicht bis unmittelbar vor Rentenbeginn erwerbstätig waren, nur 9 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer einen unerfüllten Erwerbswunsch. Für eine nicht unerhebliche, grundsätzlich arbeitsmarktnahe Rentnergruppe gilt somit, dass der Zeitpunkt des Renteneintritts entweder unfreiwillig früh erfolgte oder aber ein zum geplanten Renteneintritt gehegter Erwerbswunsch nicht umgesetzt wurde.
Insbesondere Frauen ohne Partner (19 %) und Frauen aus der untersten Einkommensgruppe (28 %) sind unfreiwillig ohne Job. Der sehr hohe Anteil lässt vermuten, dass vor allem diese Frauen auf zusätzliches Erwerbseinkommen angewiesen sind (lesen Sie dazu auch den 2018 im Wirtschaftsdienst publizierten Bericht von Silke Anger, Annette Trahms und Christian Westermeier). Darüber hinaus haben vorwiegend Männer in der mittleren Einkommensgruppe (mit einem monatlichen Haushaltseinkommen von 1.000 bis unter 2.500 Euro) einen unerfüllten Beschäftigungswunsch im Rentenalter. Ihr Anteil beträgt 17 Prozent.
Fazit
Das Phänomen der unerfüllten Erwerbswünsche im Alter ist bislang kaum erforscht. Ein wichtiger Grund dafür, dass viele Ältere nicht mehr erwerbstätig sind, obwohl sie dies gerne wären, dürfte in der Ausgestaltung von Arbeits- und Tarifverträgen liegen. Sie sehen häufig eine feste obere Altersgrenze vor, ohne dass dies mit dem individuellen Austrittswunsch übereinstimmen muss. Hier sollten Politik und Betriebe flexiblere Regelungen schaffen, um einen späteren Eintritt in den Ruhestand zu ermöglichen. Einen Überblick über entsprechende Maßnahmen gibt eine 2017 als IAB-Kurzbericht publizierte Studie.
Angesichts der geringen Wiederbeschäftigungschancen von älteren Arbeitsuchenden und relativ wenigen Neueinstellungen von Älteren ist die steigende Erwerbstätigkeit von Rentnerinnen und Rentnern größtenteils darauf zurückzuführen, dass Ältere länger im selben Betrieb tätig sind. Ohne die Möglichkeit einer flexiblen Weiterbeschäftigung im Betrieb bleiben viele Erwerbswünsche unerfüllt, und die Beschäftigungsquote von Rentenbeziehenden bleibt hinter den persönlichen und auch betrieblichen Bedürfnissen zurück.
Angesichts der Covid-19-Pandemie dürfte das Beschäftigungsangebot für Ältere zunächst spürbar schrumpfen. Dies zeigt sich schon jetzt deutlich bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass deren Zahl wegen der Corona-Krise um knapp eine halbe Million geschrumpft ist (lesen Sie dazu auch einen aktuellen Beitrag von Christian Westermeier im IAB-Forum). Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist bislang stabiler. So ist die Arbeitslosenquote unter den Älteren weniger stark gestiegen als unter den Jüngeren. Kündigungsschutz und Kurzarbeit verhindern im Moment noch Schlimmeres. Darüber, wie sich die Beschäftigungsnachfrage der Älteren und der Arbeitsmarkt für Minijobber im Zuge der Corona-Krise und danach weiter entwickeln wird, kann im Moment nur spekuliert werden. Der Arbeitsmarktvorausschau des IAB vom April 2020 zufolge wird der Arbeitsmarkt insgesamt zunächst zwar nicht so stark einbrechen wie die Konjunktur. Der Rückgang von eher kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen und Minijobs dürfte jedoch vor allem das Arbeitsangebot für Rentnerinnen und Rentner treffen.
Auf der anderen Seite gehören die über 60-Jährigen zur Covid-19-Risikogruppe. Sie könnten sich daher vermehrt freiwillig, früher und vollständig vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Gerade in dieser Situation darf die Politik diejenigen Älteren, die auf den Zuverdienst neben der Rente angewiesen sind, nicht aus dem Blick verlieren.
Literatur
Anger, Silke; Trahms, Annette; Westermeier, Christian (2018a): Erwerbstätigkeit nach dem Übergang in Altersrente: Soziale Motive überwiegen, aber auch Geld ist wichtig. IAB-Kurzbericht Nr. 24.
Anger, Silke; Trahms, Annette; Westermeier, Christian (2018b): Erwerbsarbeit nach Renteneintritt. In: Wirtschaftsdienst, Jg. 98, H. 12, S. 904-906.
Burkert, Carola; Hochfellner, Daniela (2014): Arbeiten im Ruhestand: Immer mehr Rentner sind mit dabei. In: IAB-Forum, Nr. 1, S. 12–17.
Büsch, Victoria; Dittrich, Dennis; Lieberum, Uta (2010): Determinants of Work Motivation and Work Ability among Older Workers and Implications for the Desire for Continued Employment. In: Comparative Population Studies, 35(4), 931-958.
Czepek, Judith; Moczall, Andreas (2017): Neueinstellung Älterer: Betriebe machen meist gute Erfahrungen. IAB-Kurzbericht Nr. 8.
Czepek, Judith; Gürtzgen, Nicole; Moczall, Andreas; Weber, Enzo (2017): Halten rentenberechtigter Mitarbeiter in Betrieben: Vor allem kürzere und flexiblere Arbeitszeiten kommen zum Einsatz. IAB-Kurzbericht Nr. 16.
Engstler, Heribert; Romeu Gordo, Laura (2014): Arbeiten im Ruhestand – Entwicklung, Faktoren und Motive der Erwerbstätigkeit von Altersrentenbeziehern. In: Kistler, Ernst; Trischler, Falko (Hrsg.) (2014): Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in der Alterssicherung – Folgen für Einkunftslagen im Alter. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, S. 115–147.
Homrighausen, Pia; Wolf, Katja (2018): Wiederbeschäftigungschancen Älterer: Wo Vermittlungskräfte Handlungsbedarf sehen. IAB-Kurzbericht Nr. 11.
Weber, Enzo; Bauer, Anja; Fuchs, Johann; Hummel, Markus; Hutter, Christian; Wanger, Susanne; Zika, Gerd (2020): Der Arbeitsmarkt in der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte. In: IAB-Forum vom 24.4.2020.
Westermeier, Christian (2020): Trifft die Corona-Krise ältere Erwerbstätige stärker als jüngere? In: IAB-Forum vom 8.7.2020.
Anger, Silke; Trahms, Annette; Westermeier, Christian (2020): Die Erwerbstätigkeit von Rentnerinnen und Rentnern zwischen Wunsch und Wirklichkeit, In: IAB-Forum 31. Juli 2020, https://www.iab-forum.de/die-erwerbstaetigkeit-von-rentnerinnen-und-rentnern-zwischen-wunsch-und-wirklichkeit/, Abrufdatum: 17. November 2024
Autoren:
- Silke Anger
- Annette Trahms
- Christian Westermeier