Nach 36 Jahren am IAB geht Vizedirektor Ulrich Walwei in den Ruhestand. Während die Direktoren wechselten, blieb er die Konstante am Institut. Selbst in den turbulentesten Jahren standen bei ihm immer die Menschen im Mittelpunkt. Deren Argumente zählen für den Volkswirt mehr als Hierarchien.

September, Spätsommersonne. Das Büro von Ulrich Walwei im fünften Stock ist hell und halb leer – fast, als räume er jetzt schon das Feld. „Keine Sorge, ich ziehe nur innerhalb des Instituts um“, stellt er richtig und lacht.

Er selbst ist vor kurzem aus dem Urlaub gekommen, sein Team hat ihn vorgewarnt, dass es in seinem Büro schlimm aussähe, ein Teil seiner Möbel sei bereits ausgetauscht. Der Zustand der Möbel indes ist ihm egal, wichtig sind ihm die Menschen. „Im ganzen Haus werden gerade die Schreibtische gerückt, um die Räume neu aufzuteilen, da wäre es viel verlangt, für mich eine Ausnahme zu machen.“ Und deshalb nimmt er trotz seines überaus vollen Terminkalenders in Kauf, dass er noch einmal in ein anderes Büro umzieht, bevor in wenigen Wochen sein endgültiger Auszug erfolgt: Ende Dezember geht der Vizedirektor in den Ruhestand.

„36 Jahre war ich am IAB. Als ich hier anfing, war ich der jüngste Mitarbeiter, jetzt bin ich wohl der Dienstälteste.“ In sein Lachen mischt sich ein bisschen Wehmut. Niemand kennt das Institut so gut wie er. Grund genug, mit ihm gemeinsam auf seine bewegte Zeit am IAB zurückzublicken.

Auf verschlungenen Wegen ins IAB

„Ich hatte zwei Pläne für meine Zukunft“, erzählt er. „Ich wollte in meiner Heimat bleiben, und ich wollte als Steuerberater arbeiten.“

Ursprünglich kommt Ulrich Walwei aus Ostwestfalen. „Ich war dort sehr verwurzelt: Über meine Familie, mein Engagement in der Jugendarbeit, als Fußballfan.“ Er besuchte die Realschule und ließ sich zum Steuerfachgehilfen ausbilden. Erst danach holte er das Abitur nach und studierte in Paderborn. Damit kam alles anders, als er dachte. Das Studium der Volkswirtschaftslehre packte ihn und ließ ihn nicht mehr los. Mit dem Diplom als Volkswirt blieb er deshalb anders als geplant an der Universität und begann seine Promotion als Assistent am finanzwissenschaftlichen Lehrstuhl von Professor Buttler. Und der überraschte ihn mit einer Offerte, bei der er nicht Nein sagen konnte.

„An einem Samstagmorgen schlug meine Frau die Zeitung auf und las, dass Friedrich Buttler zum Direktor des IAB in Nürnberg ernannt wurde“, erzählt er. „Er hatte uns das noch gar nicht mitgeteilt. Meine Frau fragte, was das für uns bedeutete. Ich meinte nur vorsichtig, dass wir uns jetzt vielleicht ebenfalls mit Süddeutschland auseinandersetzen müssten.“

Als hätte er geahnt, dass Buttler ihm nur ein paar Tage später die Stelle als sein persönlicher Referent am IAB anbieten würde. Die Walweis wagten den Sprung. „Uns in Nürnberg heimisch zu fühlen, hat allerdings gedauert“, gibt er zu. „Auch weil der Alltag mit kleinen Kindern und ohne familiäre Unterstützung durchaus herausfordernd war. Aber wir haben es nicht bereut.“

1988 kam er ans IAB. Das Institut war ein gänzlich anderes, erzählt er. Es war deutlich kleiner als heute, eine überschaubare Abteilung der damaligen Bundesanstalt für Arbeit, und in der meist älteren Belegschaft ging es gemächlich zu. Doch so ruhig wie in Walweis Anfangsmonaten sollte es nicht bleiben.

Friedrich Buttler und Ulrich Walwei beim Festakt „25 Jahre Betriebspanel“ im Jahr 2023.

„Die deutsche Wiedervereinigung war auch am IAB turbulent“

Noch während Walwei neben seiner Referententätigkeit seine Promotion abschloss, kam die deutsche Wiedervereinigung. Eine turbulente Zeit für die deutsche Politik, aber auch für das Institut. „Nicht nur unsere Forschung gewann schlagartig neue Themen hinzu. Das IAB selbst wuchs auf einmal um eine größere Zahl an Kolleginnen und Kollegen.“ Ein guter Teil von den Neuen kam aus Dresden; das IAB übernahm sie von einer staatlichen Forschungseinrichtung aus DDR-Zeiten, die dort aufgelöst wurde.

„Ihr Wissen über die neuen Bundesländer war für unsere Arbeit eine echte Bereicherung“, erzählt Walwei, der sich auch über dreißig Jahre später noch gut an einzelne Kollegen erinnert. „Doch teilweise stießen im Haus politische Standpunkte aufeinander.“ Einige Meinungsverschiedenheiten gingen so weit, dass Leute auf den Kopierern Papiere auslegten mit dem Slogan „Keine roten Socken am IAB“.

Das IAB war eben immer schon ein diskussionsfreudiger Ort, meint Walwei heute dazu und lächelt gelassen. Es ist dieses Lächeln, das alle im Haus kennen – wenn er etwa in Personalversammlungen die unterschiedlichen Sichtweisen abwägt und sich selbst vom empörtesten Gegenüber nicht aus der Fassung bringen lässt. Er selbst suchte stets lieber das persönliche Gespräch als die öffentliche Provokation.

„Wir profitieren doch alle ungemein vom gegenseitigen Austausch“, meint er. „Das war damals so und heute. Und damals haben sich schließlich auch wieder alle zusammengerauft.“ 1995 wechselte er schließlich von der Institutsleitung in den Forschungsbereich „Internationale Vergleiche, Statistik und Regionales“, um als wissenschaftlicher Mitarbeiter an Ländervergleichen zu forschen.

Ein Posten auf Lebenszeit

Der nächste Wechsel im IAB für ihn stand zwei Jahre später an, als der Leiter des Forschungsbereichs „Vorausschau“ in den Ruhestand ging. „Ich sah eine gute Möglichkeit, bewarb mich auf die Stelle und wurde ausgewählt“, sagt Walwei bescheiden. Was er kaum erwähnt: Das Team aus seinem vorigen Bereich „Internationales“, mit dem er eng zusammengearbeitet hatte, wünschte sich, mit ihm in den neuen Bereich zu wechseln. So wurde er mit Mitte dreißig der Leiter eines der größten Forschungsbereiche am damaligen Institut – und bewährte sich in der Position so gut, dass ihn ein paar Jahre später Direktor Kleinhenz zum Vizedirektor ernannte.

„Damit habe ich wohl meinen Posten auf Lebenszeit gefunden.“ Walwei zwinkert verschmitzt. In den folgenden 22 Jahren sollten sich drei Direktoren und eine Direktorin die Klinke in die Hand geben. Nur Ulrich Walwei blieb im Leitungsteam die Konstante.

„So unterschiedlich die verschiedenen Persönlichkeiten waren, die das IAB leiteten“, meint er im Rückblick, „im Nachhinein war jede von ihnen genau zur rechten Zeit da.“

Die Modernisierung des IAB war auch Walweis Verdienst

So sah er die streitbare Jutta Allmendinger genau am richtigen Ort, als ab 2003 die Hartz-Reformen in Kraft traten. Zeitgleich zu einer umfassenden Strukturreform, dank der sich die träge gewordene Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Arbeitsmarktdienstleister mausern sollte, hatte auch das IAB Modernisierungsbedarf.

„Jutta Allmendinger hat den frischen Wind reingebracht, den wir dringend brauchten“, erinnert er sich. Und dabei hatte auch er seinen Anteil an den folgenden strukturellen Erneuerungen. So hatte er sich bereits seit längerem dafür eingesetzt, das IAB mehr nach außen zu öffnen und etwa seine Datenschätze endlich der Forschungslandschaft zur Verfügung zu stellen. Das gefiel im Haus damals nicht allen, die Tradition als Behörde war eher, die Schatztruhe verschlossen zu halten. „Aber Forschung passiert nicht im Alleingang“, insistiert er. „Das Forschungsdatenzentrum einzurichten war der einzig folgerichtige Schritt, um das IAB endlich stärker zu vernetzen und wissenschaftlich voranzubringen.“

Dass die Migrationsforschung am IAB ausgebaut wurde, war ihm ebenfalls ein wichtiges Anliegen. „Mir war klar, dass ich die Leitung meines Forschungsbereichs abgeben musste“, erinnert er sich. „Das IAB war erneut enorm gewachsen, meine Arbeit als Vize nahm mich Vollzeit in Anspruch. Aber ich wollte, dass wir die Chance nutzen und in der internationalen Arbeitsmarktforschung langfristig die Weichen stellen. Vor zwanzig Jahren war schließlich schon absehbar, dass Zuwanderung immer wichtiger werden würde.“ Auch dank Walwei ist das IAB heute eines der führenden Institute in der Migrationsforschung.

Der Wissenschaftsrat, der das IAB 2007 evaluierte, zollte den Anstrengungen dieser Jahre denn auch Respekt: Das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium der Bundesregierung stellte dem IAB ein sehr gutes Zeugnis aus.

Ausruhen konnte sich Ulrich Walwei darauf allerdings nicht: Mit dem zeitgleichen Weggang von Jutta Allmendinger fiel die kommissarische Leitung des Instituts für einige Monate an ihn, bis mit Joachim Möller der nächste IAB-Direktor sein Amt antrat.

IAB-Direktor Joachim Möller, Bundespräsident Horst Köhler und Ulrich Walwei vor dem ehemaligen IAB-Gebäude in der Weddigenstraße 2008 (von links nach rechts).

Auch an der Konsolidierung und Internationalisierung des IAB unter Joachim Möller hat Walwei tatkräftig mitgewirkt

„Mit Joachim Möller kam jemand ans IAB, der die bereits getätigten Modernisierungen klug weiterentwickelt hat“, lobt Ulrich Walwei den langjährigen Weggenossen, mit dem er die Geschicke des Instituts elf Jahre gestaltete, bis 2018. „Er war selbst tief in der Forschung verankert, ein sehr geerdeter Charakter, der auch am IAB hohe Wertschätzung genossen hat.“

In diesen Jahren konsolidierte das IAB die hohe Qualität seiner Forschungs- und Beratungsleistungen und vernetzte sich noch stärker mit Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. „Die Forschungsfreiheit, die wir im IAB ja schon lange gelebt haben, wurde jetzt auch als schriftliches Statut mit dem Vorstand und dem Ministerium verankert.“ Für Ulrich Walwei einer der wichtigsten Schritte, um die Unabhängigkeit des IAB auch offiziell zu garantieren.

Mit dem wachsenden Ansehen des Instituts nahm auch für Walwei in diesen Jahren die Zahl der Termine und Dienstreisen stetig zu. In der Politikberatung war er oft in Berlin gefragt, zu Fachtagungen reiste er oftmals auch über Landesgrenzen hinweg. Zeitgleich trugen ihm immer mehr Beratungsgremien und wissenschaftliche Beiräte eine Mitgliedschaft an, Posten, die er gerne wahrnimmt. „Es ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, das IAB nach draußen zu vertreten“, ist er überzeugt. „Außerdem schätze ich die Begegnungen, die mir dadurch ermöglicht werden, sehr.“

Neben dem internen Management eines Instituts und all den externen Terminen, blieb ihm da noch Zeit zu forschen? „Zu wenig“, wie er bedauert. „Obwohl ich immer versuchte, dranzubleiben. Ein wichtiger Teil von mir ist und bleibt Wissenschaftler.“ So nahm er 2014 auch eine Honorarprofessor für Arbeitsmarktforschung an der Universität Regensburg an.

Eine Zeit gab es, in der jede eigene Forschung jedoch stark in den Hintergrund treten musste: Nach Joachim Möllers Verrentung leitete Walwei das Institut fast ein Jahr lang allein. „Eine immens arbeitsintensive Phase“, konstatiert er heute. „In der ich zum Glück große Unterstützung im Haus fand.“ Denn auch in jener Zeit sah er sich vor allem als Teamplayer.

2019 kam Bernd Fitzenberger ans IAB, der dem Posten des Direktors bis heute innehat. Auch für ihn findet Walwei nur wertschätzende Worte. „Was die Forschungsqualität am IAB angeht, hat Bernd Fitzenberger die nächste Stufe gezündet“, meint er anerkennend. „Er ist methodisch wirklich versiert und bringt das IAB auch datentechnisch voran, in einer Zeit, in der die Welt immer digitaler und virtueller wird, sich viele Prozesse grundlegend ändern.“

Ulrich Walwei und Bernd Fitzenberger bei der Antrittsvorlesung von Bernd Fitzenberger 2020.

Der Brückenbauer

Ob es ihm, in all den Jahren als Vize, denn nie schwergefallen ist, sich stets auf neue Persönlichkeiten einzustellen? „Herausfordernd war es schon“, bestätigt er ohne Zögern. „Aber die Akklimatisierung ging jedes Mal eigentlich sehr rasch. Zum einen konnte ich mich immer schon gut auf andere Menschen einlassen. Und zum anderen ist der Arbeitsalltag in der Institutsleitung so eng getaktet, Entscheidungen stehen häufig unter Zeitdruck, da ist es einfach unerlässlich, sich ständig auszutauschen.“

Für ihn war stets das entscheidende, dass die enge Zusammenarbeit in der Leitung auf Vertrauen basiert – und die Kommunikation auf Augenhöhe abläuft. „Da habe ich mit jeder dieser Personen einen guten Weg gefunden.“

Und selbst wenn er es nicht eigens hervorhebt, die Direktoren haben sehr von seiner langjährigen Erfahrung profitiert. „Es stimmt, das IAB ist in seiner Vielfalt an Themen und Aufgaben durchaus komplex“, meint er nur und fügt hinzu: „Da habe ich gern Orientierung gegeben.“

Außerdem sah er sich immer als Brückenbauer im Haus. Gerade in Phasen des Umbruchs wollte er für die Belegschaft des IAB stets ein verlässlicher Ansprechpartner sein, eben weil sie ihn kennen. Empathisch, aufmerksam, so beschreiben ihn die Leute im Institut, wenn man sie nach ihm fragt. Einer, der zuhören kann, der immer kurz stehen bleibt, wenn man ihn von der Seite anspricht.

„Mir war immer wichtig, dass alle wissen, dass ich ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Anliegen habe.“ Umgekehrt nahm er sich selbst mit eigenen Befindlichkeiten oder Launen stets zurück. Ein Mensch gänzlich ohne Allüren. „Das ist einfach nicht mein Naturell“, meint er. „Und zum Glück bin ich sehr stressresistent, mich bringt eigentlich wenig aus der Ruhe.“ Seine immens hohe Arbeitsbelastung ließ er andere nie spüren. „Mir war immer wichtig, dass die Leute gern in mein Büro kommen. Nur weil ich gerade den Kopf voll habe, stoße ich doch niemand anderen vor den Kopf. Selbst wenn mein Team dachte, das passt nun wirklich nicht mehr in meinen Kalender, haben wir es immer noch irgendwie möglich gemacht.“

Argumente zählen für ihn mehr als Hierarchien

Abends und an den Wochenenden nimmt er oft noch Arbeit mit nach Hause, und manchmal auch Sorgen. Personalpolitische Themen, Schicksalsschläge bei Mitarbeitenden und Konflikte, bei denen es unmöglich schien, sie zu schlichten, an denen hat er geknabbert, sagt er. Aber das gehöre zur Führungsverantwortung dazu. „Es menschelt immer an allen Ecken und Enden. Dass wir im Haus offen miteinander umgehen, das schätze ich sehr.“

Kritisch nachfragen, hinterfragen, das liegt nicht nur am Charakter der Wissenschaft, sondern auch in der Kultur des Instituts. „Im IAB kannst du als Leitung nicht einfach etwas verfügen, sondern du musst erst einmal eine große Gruppe kluger Leute überzeugen.“ Er sieht das als Qualität. „Auch wenn Prozesse dadurch oft länger dauern: Wenn Argumente mehr zählen als Hierarchien, holt dies das Beste aus dem Institut heraus.“ Auch Transparenz sei ihm wichtig. „Selbst wenn man als Leitung dann manchmal vor der Mitarbeiterschaft steht und sagen muss: Wir haben zwar dies und jenes erreicht, aber nicht alles, was wir wollten, und dann muss man auch Protest aushalten.“

Ist das nicht manchmal anstrengend? „Ach was.“ Er lächelt verschmitzt. „Zum einen bin ich durchaus kritikfähig. Und es hat auch einen Vorteil, wenn man lang genug dabei ist: Man weiß, wie man so manchen eigenwilligen Charakter im IAB zu nehmen hat.“

Und das gilt nicht nur für das IAB. Verhandlungsgeschick mit den zahlreichen Stakeholdern des IAB bewies Ulrich Walwei über die Jahre immer wieder.

Ulrich Walwei, Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering und Joachim Möller 2006 (von links nach rechts).

Türöffner und Netzwerker

Das wichtigste Investment, das man als Vizedirektor tätigen muss, sind für Walwei Kontakte. „Verlässliche Beziehungen aufbauen, einen persönlichen Draht finden, darauf kommt es an.“ Vor allem in der Politik. Den ständigen, engen Austausch mit den Stakeholdern des IAB sah er immer als wichtigen Teil seiner Aufgabe. Das offene Gespräch nicht zu scheuen, beharrlich und zugleich zugewandt bleiben, darin liegen seine Stärken. Damit hat Walwei über die Jahrzehnte ein weitverzweigtes und belastbares Beziehungsnetzwerk aufgebaut, dessen Mehrwert für das IAB kaum hoch genug einzuschätzen ist.

„Zum einen ist es mir wirklich wichtig, dass die exzellenten Forschungsergebnisse des IAB politische Wirksamkeit entfalten können.“ Deshalb signalisiere er den Stakeholdern stets, dass man auf ihn jederzeit zukommen könne. Und das tun sie zahlreich – nicht umsonst laufen all die Anfragen des Verwaltungsrats über sein Team.

„Ohne eine gute Vernetzung läuft das Institut außerdem Gefahr, dass Dinge an ihm vorbeilaufen. Dass über uns entschieden wird, statt mit uns.“ Etwa, als während der Hartz-Reformen einige Abgeordnete einen Vorstoß unternahmen, das IAB zu privatisieren. „Euch kriegen wir da auch noch raus, sagten sie tatsächlich bei einer Anhörung im Bundestag zu mir.“ Im Nachhinein wirkt er immer noch fassungslos. Er war damals als kommissarischer Direktor allein mit der Verantwortung des Instituts. „Mir war klar, dass ich das Institut sofort gegen einen solchen Übergriff munitionieren musste.“ Er suchte direkt das persönliche Gespräch mit dem Vorstand der BA, dem Verwaltungsrat und anderen Stakeholdern, um sie bei den folgenden politischen Verhandlungen auf Seiten des Instituts zu wissen.

„In der Krise bewähren sich die Netzwerke, die man vorher jahrelang geknüpft hat“, zeigt er sich überzeugt. „Ich bin immer wieder beeindruckt, wie wichtige Entscheider plötzlich zur Bestform auflaufen und dem IAB als Partner zur Seite springen, weil sie unsere Arbeit kennen und schätzen.“

Türen zu öffnen, sieht er mittlerweile ebenfalls als eine seiner wichtigsten Aufgaben.  „Nicht nur, weil es im Interesse des IAB ist. Ich freue mich einfach jedes Mal, wenn ich den Leuten am Institut etwas zurückgeben kann, vor allem dem wissenschaftlichen Nachwuchs. Wenn ich ihnen nur eine Tür öffne zu einer Person aus meinem Netzwerk, die ihnen dann wiederum die nächste Tür öffnet. Dann ist mit einem kleinen Telefonat so vieles erreichbar. Und beim nächsten Mal brauchen sie mich dann gar nicht mehr.“

So hat er persönlich viele seiner Kontakte etwa als Mentorinnen und Mentoren für das Mentoringprogramm am IAB gewinnen können, wo sie jetzt junge Frauen auf ihrem beruflichen Weg begleiten.

„Hegt und pflegt mir die Menschen“

Nach all den Jahren, in denen er das IAB so gut kennt. Was hat er am meisten zu schätzen gelernt?

„Die Menschen“, sagt er sofort. „Die Forschungsprojekte, die Inhalte, die Daten – sie wären nichts ohne die Leute, die hier arbeiten, diskutieren, manchmal konkurrieren, und oft einander helfen.“

Von ihnen habe er all die Jahre unglaublich viel gelernt. „Ich habe hier große Solidarität und enormes Engagement erlebt. Als das Institut bei den Evaluationen des Wissenschaftsrat unter Druck das Beste aus sich rausholte. Als wir in Krisensituationen zur Höchstform aufliefen, etwa während der Covid-Pandemie. Das sind die Momente, an die ich mich erinnere. Und das ist auch das, was ich meiner Nachfolgerin und überhaupt den Führungskräften im Haus mitgeben möchte, wenn ich mich bald von meinem Posten verabschiede.“ Eindringlich beugt er sich vor: „Hegt und pflegt mir die Menschen im IAB. Sie sind das Wichtigste hier.“

Neben den Kolleginnen und Kollegen motivierte ihn auch stets die Forschungsfreiheit und die politische Relevanz, die die Arbeit im Institut hat. „Bei uns stehen weder eine Lobby noch gelenktes Interesse hinter unseren Themen, wie bei anderen Organisationen, und wir forschen trotzdem nicht im Elfenbeinturm vor uns hin.“ Für ihn war das der Beweggrund, dem IAB über all die Jahre die Treue zu halten, obwohl es immer wieder andere berufliche Angebote gab. „Wer hier arbeitet, leistet wichtige Beiträge, die eine Gesellschaft nach vorne bringen können. Das ist der Markenkern des IAB, und das will ich auch den Nachwuchskräften weitergeben, das muss für das IAB unbedingt erhalten bleiben.“

Ulrich Walwei und Kolleg*innen auf der Weihnachtsfeier des IAB, 2012.

„Die Forschungsfreiheit ist kein Selbstläufer“

Macht er sich Sorgen, dass dieser Kern gefährdet ist? „Zumindest dürfen wir den Status Quo nicht als selbstverständlich voraussetzen“, antwortet er ernst. „Forschungsfreiheit ist kein Selbstläufer, das sieht man gerade in anderen Staaten, in denen Populisten an die Macht kommen.“

Die politische Debatte habe sich auch in Deutschland in den letzten Jahren verschärft, auch aufgrund von sozialen Medien, Fake News und der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung. „Politische Reibereien gab es schon immer. Aber das Verhetzungspotenzial ist neu.“ Das IAB sehe sich heute mehr wissenschaftsfeindlichen Angriffen ausgesetzt als früher.

Wie kann sich das IAB dem stellen? „Da gibt es nur eine Antwort: Das Institut darf und muss unbequem bleiben. Der Sache verpflichtet. Und sich dabei konsequent auf Fakten und Evidenzbasierung stützen. Vor allem im kommenden Bundestagswahlkampf wird es wichtig sein, sich weder instrumentalisieren noch einschüchtern zu lassen – und dabei diplomatisch und klug zu agieren.“

Er selbst wird dann schon im Ruhestand sein. Oder doch nicht?

Walwei wird weiterwirken  – auch im Ruhestand

„Über die Jahre habe ich recht viele Leute aus dem IAB in die Rente verabschiedet“, meint er und lächelt wieder. „Und denen habe ich stets etwas mitgegeben, dass ich jetzt auch zu mir selbst sage: Ein ganz neuer Wert wird die Zeitsouveranität sein. Die hatte ich in den letzten Jahren zu wenig.“

Sah er sich zu sehr fremdbestimmt? „Mein Kalender war zumindest jeden Tag komplett gefüllt. Das wird jetzt mit einem Schlag wegfallen.“ Er lacht. „Mein Schmerz darüber hält sich in Grenzen.“

Er deutet aus dem Fenster, auf den sonnigen Herbsthimmel. „Heute morgen um sieben hat es geregnet. Trotzdem war ich joggen, weil ich wusste, den restlichen Tag würde ich kein freies Zeitfenster mehr dafür finden. Im Ruhestand könnte ich einfach jetzt joggen gehen und das, was ich sonst am heutigen Tag vorhatte, anders einteilen.“

Auf die Frage, was er privat mit seiner größeren Freiheit anfangen will, nennt er auch gleich weitere sportliche Aktivitäten: So hat er schon diverse Wanderrouten im Kopf, die er austesten möchte, außerdem plant er, die kommenden Wintermonate zu nutzen, um endlich mal wieder Ski zu fahren.

Doch vor allem möchte er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen, die in den letzten Jahrzehnten öfter zurückstecken musste.

Und beruflich? Der Forschungsbericht, den er kürzlich veröffentlicht hat, beschäftigt sich schließlich mit den Beschäftigungspotenzialen von älteren Arbeitskräften, da gehört er nun auch dazu.

„Ach, die Arbeit wird mir nicht ausgehen.“ Er schmunzelt. „Ich muss eher aufpassen, dass ich mich nicht zu viel verplane.“

So ereilen ihn jetzt schon Anfragen für Vorträge und Beratungen im nächsten Jahr. Die Arbeit in den wissenschaftlichen Beiräten, in die er in den letzten Jahren berufen wurde, endet ebenfalls nicht mit dem Ruhestand. Ab dem Frühjahrssemester wird er an der Hochschule der BA lehren, eine Bachelor- und eine Masterarbeit an der Uni Regensburg hat er noch zu betreuen, auch hat er neue Ideen für Forschungsprojekte. „Dem IAB bleibe ich erhalten, zumindest mit einem Minijob“, untertreibt er augenzwinkernd. „Aber dann nur noch als Wissenschaftler. Und als Kollege, mit dem man dann hoffentlich gern mal Mittagessen geht.“ Eine Hoffnung, so ist man geneigt hinzuzufügen, die mit Sicherheit nicht enttäuscht werden wird.

 

DOI: 10.48720/IAB.FOO.2024119.01