Das IAB war Nicole Gürtzgen ein Begriff, lange bevor sie im Oktober vorigen Jahres nach Nürnberg kam: „Ich kannte das Institut schon von meiner Tätigkeit am ZEW, weil ich viel mit den IAB-Daten gearbeitet habe“, erzählt die Ökonomin, die 13 Jahre als Senior Researcher am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim tätig war, bevor sie am IAB die Leitung des Forschungsbereichs „Arbeitsmarktprozesse und Institutionen“ übernahm. „Das Institut ist ein Eldorado für die empirische Arbeitsmarktforschung“, sagt Nicole Gürtzgen mit Blick auf die Datenschätze, die die Forscherinnen und Forscher nutzen können, um Einblicke in die komplexen Zusammenhänge des Arbeitsmarktes zu gewinnen. „Was mich am IAB reizt, sind auch der Austausch mit vielen Gleichgesinnten und die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Projekten“, erzählt die 47-Jährige, die in Wesel am Niederrhein großgeworden ist und später in Duisburg und Heidelberg Mathematik und Volkswirtschaftslehre studiert hat.
Sie kennt und schätzt die Nähe zur Politikberatung: „Meine Forschung hat sich immer nah an der gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Relevanz orientiert. Ich möchte keine reine universitäre Forschung betreiben, sondern meine Forschungsergebnisse in die Politikberatung einbringen. Das kann ich hier am IAB ideal fortführen“, sagt Nicole Gürtzgen, die sich mit dem Einfluss von Institutionen auf die Lohn- und Beschäftigungsdynamik beschäftigt. So befasst sie sich zum Beispiel mit der Frage, welche Aufstiegschancen Beschäftigte im Niedriglohnsektor haben und welche institutionellen Faktoren den Aufstieg in eine höher entlohnte Beschäftigung begünstigen.
In einem aktuellen Projekt, das sie aus Mannheim mitgebracht hat und hier fortführt, geht es darum, ob sich Niedriglohnbeschäftigung über unterschiedliche Wirtschaftssysteme „vererbt“: „Wir untersuchen, inwiefern Niedriglohnbeschäftigte in der ehemaligen DDR nach der Wiedervereinigung ein höheres Risiko aufweisen, im marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik ebenfalls Niedriglöhner zu sein“, erläutert die Ökonomin. Um Erwerbshistorien ehemaliger DDR-Bürger auch vor der Wiedervereinigung nachvollziehen zu können, wurden Daten der Rentenversicherung mit administrativen Daten der BA verknüpft. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Niedriglohnbeschäftigung nicht über unterschiedliche Wirtschaftssysteme vererbt, sondern dass die Gründe für niedrige Löhne in der ehemaligen DDR in anderen Faktoren als einer geringen Produktivität zu suchen sind.“
Ein anderes Forschungsprojekt befasst sich mit Beschäftigungseffekten des Mindestlohns: „Kritiker des Mindestlohns befürchten, dass diese Effekte negativ sind. Es kann aber auch positive Effekte geben, welche die negativen Effekte abmildern können.“ Nicole Gürtzgen untersucht, in welchen Branchen, in denen Beschäftigte Schwierigkeiten haben, angemessene Beschäftigungsangebote zu finden, ein Mindestlohn auch teilweise positive Beschäftigungseffekte entfalten kann. „Wenn Arbeitnehmer beispielsweise wenig mobil sind, kann dies dazu führen, dass Arbeitgeber gemessen an dem, was Arbeitnehmer erwirtschaften, zu niedrige Löhne zahlen“, erklärt die Wissenschaftlerin. „In diesen Branchen kann ein Mindestlohn möglicherweise dazu beitragen, dass Arbeitsuchende eine größere Zahl an Job-Angeboten bekommen und schneller eine Stelle finden, die ihren Lohnvorstellungen entspricht. Wir versuchen, diese Branchen zu identifizieren.“
Mithilfe mikrofundierter Forschung beleuchtet ihr Bereich die Prozesse, die der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsmarktentwicklung zugrunde liegen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Anpassungshemmnissen beziehungsweise Friktionen auf dem Arbeitsmarkt und der Rolle, die institutionelle Faktoren wie das Tarifvertrags- und Mitbestimmungsrecht, der Kündigungsschutz, Mindestlöhne oder Lohnersatzleistungen hierbei spielen. So geht der Bereich der Frage nach, warum Arbeitsuchende nicht sofort eine Beschäftigung finden oder Arbeitgeber nicht sofort passende Kandidatinnen und Kandidaten für freie Stellen, und warum es in manchen Branchen sehr lange dauert, offene Stellen zu besetzen. „Was ich vorantreiben möchte, sind Forschungsfragen zur Verknüpfung von institutionellen Aspekten und deren Rolle für Stellenbesetzungsprozesse“, sagt Nicole Gürtzgen.
Mit der IAB-Stellenerhebung, einer einmaligen repräsentativen Datenbasis zur Zahl und Struktur offener Stellen sowie von Stellenbesetzungsprozessen, steht dem Bereich hierfür ein wichtiges Instrument zur Verfügung. Ein Forschungsthema, das weiter an Bedeutung gewinnen werde, sei die Digitalisierung: „Sie kann ebenfalls entscheidend für Stellenbesetzungsprozesse sein“, erklärt Nicole Gürtzgen. „Welchen Beitrag leistet beispielsweise die Verfügbarkeit und Nutzung von Online-Stellenbörsen dazu, Stellen schneller und besser im Hinblick auf die Passung zu besetzen?“ Auch hierfür sei die IAB-Stellenerhebung eine hervorragende Datengrundlage. Die Auswirkungen müssen nicht nur positiv sein: „Bewerbungen werden dadurch einfacher und billiger, das macht es für Arbeitgeber schwieriger, die Spreu vom Weizen zu trennen.“
Ein anderes wichtiges Forschungsthema betrifft Friktionen und Brüche im Erwerbsverlauf: „Der Erwerbsverlauf ist gerade bei Frauen stärker von Unterbrechungen gekennzeichnet“, sagt die Ökonomin. Sie möchte wissen, wie Institutionen dazu beitragen können, die Folgen solcher Brüche abzumildern: „Es wird immer wichtiger, hinreichend hohe Lebenseinkommen zu erzielen, die später eine angemessene Versorgung im Alter ermöglichen. Es gilt also, Beschäftigte in die Lage zu versetzen, ihre Erwerbskarrieren nach einer Unterbrechung schnell wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Tragen beispielsweise Elterngeld und Pflegegeld dazu bei, den Wiedereinstieg nach Erwerbspausen aufgrund von Kindererziehung oder Pflege zu erleichtern? Trägt der Kündigungsschutz dazu bei, Beschäftigungsstabilität nach langer Krankheit zu gewährleisten?“ Auf Fragen wie diese möchte Nicole Gürtzgen mit ihrer Forschung Antworten geben.
„Es geht mir darum, Debatten über verteilungspolitisch besetzte Themen nicht ideologisch zu führen, sondern auf evidenzbasierter Grundlage“, betont die Wissenschaftlerin. „Die Folgen von Eingriffen auf dem Arbeitsmarkt gehen aus theoretischer Sicht oft nicht in eine eindeutige Richtung und müssen empirisch geklärt werden. Außerdem können solche Eingriffe unterschiedliche oder gegensätzliche Effekte haben. Deshalb ist es notwendig, die Mechanismen zu erforschen.“ Dafür müsse man die Politik sensibilisieren, sagt Nicole Gürtzgen, die neben ihrer Leitungstätigkeit im IAB eine Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsmarktforschung, an der Universität Regensburg innehat.
Bei ihrer Arbeit an der Universität geht es ihr auch darum, „Forschungsergebnisse des IAB in die Lehre einzubringen und den Studierenden zu zeigen, dass Forschung nicht im Elfenbeinturm stattfinden muss“, erzählt Nicole Gürtzgen, die zwischen Nürnberg und Köln pendelt, weil ihr Mann in der Domstadt an der Universität tätig ist. Die rheinische und die fränkische Lebensart schätzt sie gleichermaßen und in ihrer Freizeit entdeckt sie ihre neue fränkische Heimat: „Statt wie früher in die Pfalz oder in den Odenwald geht es am Wochenende nun zum Wandern in die fränkische Schweiz, um in der Natur den Kopf frei zu bekommen.“
Zur Person
Prof. Dr. Nicole Gürtzgen studierte von 1990 bis 1996 Mathematik und Volkwirtschaftslehre an den Universitäten Duisburg und Heidelberg. Von 1997 bis 2002 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rostock, wo sie 2002 ihre Promotion beendete. Während ihrer anschließenden Tätigkeit als Senior Researcher am Zentrum fur Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)in Mannheim habilitierte sie sich 2008 an der Universität Mannheim. Nicole Gürtzgen leitet seit Oktober 2015 den Forschungsbereich „Arbeitsmarktprozesse und Institutionen“ am IAB und hat eine Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsmarktforschung, an der Universität Regensburg inne. Seit April 2014 ist sie Mitherausgeberin des Journals for Labour Market Research und seit Januar 2016 Research Associate am ZEW.
Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 1/2016 des Printmagazins „IAB-Forum“ erschienen (S. 91f.).
Autoren:
- Andrea Kargus