23. März 2021 | IAB-Debattenbeiträge
Hartz IV: Reform mit Augenmaß
Hartz IV ist seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2005 ein Dauerbrenner der arbeitsmarktpolitischen Diskussion, an dem sich die Geister immer wieder scheiden. Die Positionen reichen von „Armut und Ausgrenzung per Gesetz“ bis hin zum „Garanten für den Arbeitsmarktaufschwung“.
Das Wiederaufflammen der Debatte hat verschiedene Gründe: Erstens hatte das Bundesverfassungsgericht im November 2019 Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten beim Bezug von Arbeitslosengeld II für teilweise verfassungswidrig erklärt. Zweitens wurden die Sanktionspraxis und die Vermögensanrechnung im Zuge der Corona-Krise weitgehend ausgesetzt und damit neue Fakten geschaffen. Drittens besteht weithin die Einschätzung, dass Hartz IV – also die Grundsicherung für Arbeitsuchende – den persönlichen Umständen der Menschen nicht gerecht wird. So honoriere die Grundsicherung die Lebensleistung der Menschen nicht hinreichend. Viertens stehe der Fokus auf die Mitwirkungspflichten zur zeitnahen Beendigung des Leistungsbezugs im Widerspruch zu einer nachhaltigen Teilhabe am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Und fünftens gilt die Grundsicherung als kompliziert, bürokratisch und stigmatisierend.
Schon bei der Einführung der Grundsicherung im Jahr 2005 sollte der neu geschaffene Kinderzuschlag Geringverdienende vor einem ergänzenden Grundsicherungsbezug bewahren. Die Idee, durch andere Sozialleistungen den Grundsicherungsbezug für möglichst viele Menschen überflüssig zu machen, hat auch im politischen Raum zusehends an Attraktivität gewonnen.
Die aktuelle Debatte konzentriert sich auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung. Dabei wird Grundsicherungsbezug oft mit Armut gleichgesetzt. Das kann zu dem Paradoxon führen, dass die wahrgenommene Armut sogar steigt, wenn Grundsicherungsleistungen ausgeweitet werden – erhöht sich doch die Zahl der Anspruchsberechtigten. In Wirklichkeit wird das Armutsproblem dadurch kleiner. Zugleich geht es darum, wie Hartz IV so reformiert werden kann, dass der hoffentlich bald bevorstehende Aufschwung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt bestmöglich unterstützt wird. Im Zentrum der Debatte stehen das Prinzip des Forderns und Förderns, die Höhe und Form der Leistungen sowie die Prüfung der Bedürftigkeit.
Es ist sinnvoll, das Prinzip des Forderns in Zeiten einer schweren Wirtschaftskrise zu lockern. Solo-Selbständige und andere Gruppen am Arbeitsmarkt, die unverschuldet in eine ökonomische Schieflage geraten sind, sollten unbürokratisch unterstützt werden. Auch lässt es sich durchaus rechtfertigen, Grundsicherungsbeziehenden in diesen schwierigen Zeiten einmalige Zuschüsse für besondere Lasten zu gewähren.
Die Sanktionsregelungen muss der Gesetzgeber ebenfalls überarbeiten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehen Sanktionen dann zu weit, wenn der Lebensunterhalt von Menschen massiv beeinträchtigt wird und die Wirkungen dieser Einschränkungen nicht zweifelsfrei belegt werden können.
Leistungsberechtigte müssen bei der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitwirken
Das alles spricht aber nicht gegen ein Fordern mit Augenmaß und die berechtigte Erwartung an die Leistungsberechtigten, bei der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit mitzuwirken. Denn arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie Weiterbildung, Beratung und Vermittlung wirken durchaus: Sie erhöhen die Beschäftigungschancen und verringern dadurch die Abhängigkeit der Menschen vom Leistungsbezug.
Allerdings birgt eine einseitige Fokussierung auf eine schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt die Gefahr, dass die Betroffenen eher prekäre Jobs mit geringen Verdienstchancen und hohem Entlassungsrisiko annehmen müssen. Dies kann in manchen Fällen einer nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt im Wege stehen. Die Hoffnung, dass sich ein weniger sicherer und niedrig entlohnter Job als Sprungbrett in ein stabileres und besser bezahltes Beschäftigungsverhältnis erweist, hat sich in vielen Fällen nicht erfüllt.
Ein ausgewogenes und zugleich nicht zu starres Verhältnis von Fördern und Fordern in der Grundsicherung ist und bleibt ein wichtiges Element der Arbeitsmarktpolitik. So kann in bestimmten Fällen eine Weiterbildung und die Förderung der persönlichen Entwicklung durch sozialpädagogische Betreuung letztlich nachhaltiger sein als die schnelle Jobvermittlung.
Soziale Härten vermeiden, ohne einen Freibrief auszustellen
Die Prüfung der Bedürftigkeit ist von entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Akzeptanz der Grundsicherung, die aus Steuermitteln von der Allgemeinheit finanziert wird. Wollte man die Bedürftigkeitsprüfung dauerhaft aussetzen oder ein wesentlich höheres Schonvermögen einräumen, schüfe dies zwangsläufig neue Ungerechtigkeiten. Bei der Leistungsgewährung muss es also darum gehen, soziale Härten zu vermeiden, ohne zugleich einen Freibrief für den Bezug von Leistungen auszustellen. Nur so lässt sich die Legitimität der finanziellen Hilfen gegenüber den Steuerzahlenden rechtfertigen.
Konkret bedeutet das: Es ist kontraproduktiv, Menschen in Notsituationen dazu zu zwingen, relativ schnell in eine kleinere Wohnung zu ziehen und bereits kleinere Ersparnisse aufzulösen. Da war der Gesetzgeber vor Corona zu restriktiv. Ein Umzug in eine kleinere Wohnung mit höherer Quadratmetermiete oder die Auflösung von Vermögenswerten wie der Kündigung einer Lebensversicherung können mit hohen finanziellen Kosten oder Verlusten für die Betroffenen verbunden sein und führen nicht selten auch zu erheblichen psychischen Belastungen. Das eigentliche Ziel, die dauerhafte Überwindung der Notsituation, wird durch zu harte Eingriffe in das Leben der Betroffenen manchmal eher gefährdet als erreicht.
Arbeitsanreize stärken
Was folgt aus alledem? Die Grundsicherung sollte keineswegs abgeschafft werden – es gilt vielmehr, sie weiterzuentwickeln. Zunächst einmal geht es darum, Erwerbsarbeit noch attraktiver zu machen. Zwar ist die Aufnahme einer neuen Beschäftigung angesichts der derzeit schlechten Arbeitsmarktlage schwierig. Deshalb lassen sich Lenkungswirkungen in Richtung stärkerer Beschäftigungsaufnahmen momentan nur schwer erzielen.
Wenn sich die Beschäftigungssituation nach der Pandemie wieder verbessert hat, sind starke Arbeitsanreize jedoch umso wichtiger. So könnten die Anrechnungsregelungen in der Grundsicherung gelockert werden, sodass den Hilfeempfängern im Falle einer Beschäftigung mehr vom Verdienst verbleibt. Dies könnte durch gezielte Zuschüsse bei der Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung flankiert werden. Bisher wirken die Arbeitsanreize durch die Aufstockerregelungen eher bei Beschäftigungsverhältnissen im Teilzeitbereich – und hier am stärksten bei der geringfügigen Beschäftigung. Damit wird eine umfassende Integration in den Arbeitsmarkt eher erschwert als befördert. Hinzu kommt, dass ergänzende Grundsicherungsleistungen oft als Stigma gesehen werden, obwohl sich damit die materielle Lebenssituation der Betroffenen objektiv verbessert. Das gilt insbesondere bei Hartz-IV-Haushalten mit mehreren Kindern.
Die bisherigen Regelungen führen also dazu, dass es für viele Aufstockende unattraktiv ist, mehr zu arbeiten und sich damit stärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Allerdings würde eine Lockerung der Anrechnungsregelungen in der Grundsicherung zumindest vorübergehend auch die Zahl der Anspruchsberechtigten in die Höhe treiben. Das gilt insbesondere dann, wenn nennenswerte Beschäftigungseffekte erzielt werden sollen, ohne das Sicherungsniveau für die Betroffenen zu senken.
Aus diesem politischen Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg. Das damit verbundene Anwachsen der Grundsicherungsleistungen für Aufstockende müsste in Kauf genommen werden – und dies dürfte nicht als Ausdruck einer wachsenden Zahl „arbeitender Armer“ fehlinterpretiert werden. Wirksame Mindestlöhne und Tariflöhne mit breiter Abdeckung begrenzen mögliche Fehlanreize für Betriebe, die unter Verweis auf die Nutzung der Grundsicherungsleistungen für Aufstockende eine niedrigere Bezahlung durchsetzen könnten.
Erst eine stärkere Integration in den Arbeitsmarkt in Form einer größeren Zahl stabiler Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung lässt Sprungbretteffekte erwarten, durch die über kurz oder lang der Grundsicherungsbezug beendet werden kann.
Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose erhöhen
Darüber hinaus gibt es einen zweiten wichtigen Ansatzpunkt: Angesichts der Corona-Krise tun sich arbeitsmarktfernere Gruppen wie Langzeitarbeitslose mehr denn je schwer, einen Zugang in Beschäftigung zu finden. Auch deshalb steigt aktuell die Zahl der Langzeitarbeitslosen. Um hier Abhilfe zu schaffen, wäre auch an eine vorübergehende Ausweitung der geförderten Beschäftigung im Rahmen des Teilhabechancengesetzes zu denken.
Das Teilhabechancengesetz soll Menschen helfen, die schon seit Längerem arbeitslos sind und nur geringe Beschäftigungsaussichten haben. Es sieht eine sehr großzügige Übernahme der Lohnkosten und eine begleitende sozialpädagogische Betreuung der Betroffenen vor und stärkt damit deren Chancen auf eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Die bisherigen Forschungsergebnisse des IAB zu den Wirkungen des Teilhabechancengesetzes sind vielversprechend, auch wenn die langfristigen Effekte noch nicht untersucht werden konnten (lesen Sie dazu einen aktuellen Beitrag im IAB-Forum).
Fazit
Angesichts der demografischen Entwicklung werden wir in der nächsten Zeit alles dafür tun müssen, Menschen am Arbeitsmarkt zu halten. Gerade in der Grundsicherung sollten wir die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen stärken, indem wir sie so gut wie möglich weiterbilden – auch um sie fit zu machen für die Herausforderungen der digitalen und ökologischen Transformation.
Die Grundsicherung kann im Zusammenspiel mit anderen Politikbereichen zu einer besseren Chancengerechtigkeit, einer höheren gesellschaftlichen Teilhabe und einer nachhaltigeren Integration in den Arbeitsmarkt beitragen. Die konsequente Vermeidung von Bildungsarmut und eine soziale Infrastruktur, die allen Personen mit geringem Einkommen zugutekommt, wären weitere wichtige Bausteine.
Unser Plädoyer lautet daher: Zusätzliche Mittel für die Grundsicherung sollten stärker darauf zielen, die Betroffenen nachhaltig in Beschäftigung zu bringen, als darauf, das Niveau der Leistungen anzuheben.
Literatur
Bauer, Frank; Bennett, Jenny; Dietz, Martin; Fuchs, Philipp; Gellermann, Jan; Globisch, Claudia; Gottwald, Markus; Kupka, Peter; Nivorozhkin, Anton; Promberger, Markus; Ramos Lobato, Philipp; Wolff, Joachim; Zabel, Cordula (2021): Evaluation des Teilhabechancengesetzes: Erste Antworten, aber noch viele offene Fragen. In: IAB-Forum, 16.03.2021.
Fitzenberger, Bernd; Walwei, Ulrich (2021): Hartz IV: Reform mit Augenmaß, In: IAB-Forum 23. März 2021, https://www.iab-forum.de/https-www-iab-forum-de-hartz-iv-reform-mit-augenmass/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Bernd Fitzenberger
- Ulrich Walwei