8. November 2024 | Interviews
Reform des Bürgergelds in Italien: „Die Menschen sollten einige Monate lang arbeiten können, ohne dass die Leistungen gekürzt werden“
Warum wurde 2019 das Reddito di Cittadinanza eingeführt?
Marco Leonardi: Die Regierung unter Ministerpräsident Paolo Gentiloni führte 2017 zum ersten Mal eine Maßnahme zur Armutsbekämpfung in Italien ein. Damals war Italien das einzige Land in Europa – abgesehen von Griechenland –, in dem es keine nationalen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gab. Das 2017 eingeführte „Eingliederungseinkommen“ war jedoch sehr gering und stand nur wenigen Familien zur Verfügung. Deshalb brachte die neue Regierung 2018 eine größere Maßnahme auf den Weg, die als „Reddito di Cittadinanza“ (RdC) bekannt ist und von 2019 bis 2023 in Kraft war. Damit wurden nicht nur die Ausgaben und der Kreis der potenziellen Begünstigten erweitert, sondern auch die gesamte Herangehensweise verändert. Während sich Gentilonis Regierung nur mit Armut befasste, ging es der neuen Regierung auch um Aktivierung.
Was waren die wichtigsten Merkmale des 2019 eingeführten Programms?
Michele Raitano: Das Ziel des RdC unterschied sich gar nicht so sehr von der früheren Maßnahme, dem „Eingliederungseinkommen“: Beide basierten auf selektivem Universalismus. Das bedeutet, dass die Regierung bestimmte Bedingungen festlegt, zum Beispiel eine Armutsgrenze. Alle Personen, die in Haushalten leben, die diese Bedingungen erfüllen, haben Anspruch auf die Leistungen, wenn sie für eine Aktivierung zur Verfügung stehen. Beim RdC gab es zwei Arten von Bedingungen: Die eine bezog sich auf Einkommen, Vermögen und Wohnsitz. Die zweite Art verpflichtete die Begünstigten, aktiv zu werden oder an Maßnahmen zur sozialen Eingliederung oder aktiven Teilnahme am Arbeitsmarkt teilzunehmen.
Raitano: Die Begünstigten waren verpflichtet, aktiv zu werden oder an Maßnahmen zur sozialen Eingliederung oder aktiven Teilnahme am Arbeitsmarkt teilzunehmen.
Was waren die Schwachpunkte des Reddito di Cittadinanza?
Raitano: Das RdC war nicht fair gestaltet. Wir müssen bedenken, dass es unter einer Regierung eingeführt wurde, die aus einer Koalition mit der migrationsfeindlichen Lega-Partei gebildet wurde und eine äußerst diskriminierende Bedingung einführte: Nur Personen, die seit mindestens zehn Jahren grundsätzlich und mindestens die letzten zwei Jahre ununterbrochen in Italien gelebt hatten, konnten es beantragen. Allerdings sind Migrantinnen und Migranten ohne italienische Staatsbürgerschaft viel häufiger von Armut betroffen. Das heißt, dass sie zwar Steuern zahlen, aber keinen Anspruch auf aus Steuern finanzierte Leistungen haben. Das stellt das Prinzip des selektiven Universalismus in Frage, da er nur für diejenigen gilt, die die strengen Auflagen hinsichtlich des Wohnsitzes erfüllen.
Wie beurteilen Sie die Anspruchskriterien für das Programm?
Raitano: Auch die Anforderungen bezüglich des Vermögens und Einkommens gingen zu weit. Dadurch war die Zahl der potenziell anspruchsberechtigten Personen stark eingeschränkt – und das ohne einen ersichtlichen Grund. Wer kein Einkommen hat, aber über ein Finanzvermögen von 6.001 Euro verfügt, wird nicht berücksichtigt. Wer ein höheres Einkommen aber nur wenig Vermögen hat, kann dagegen anspruchsberechtigt sein. Dadurch haben viele ihr Einkommen und Vermögen zu niedrig angegeben, um anspruchsberechtigt zu sein, und im informellen Sektor tätige Personen haben überhaupt keinen Antrag gestellt, um einer Kontrolle durch die Steuerbehörden zu entgehen. Es entstand also eine Lücke bei der Inanspruchnahme, weil manche Menschen keinen Antrag gestellt haben, obwohl sie in Bezug auf ihr Einkommen und Vermögen von Armut betroffen waren. Außerdem kam beim RdC eine sehr merkwürdige Äquivalenzskala zum Einsatz, die von sehr starken Skaleneffekten durch Familienmitglieder ausging. Dadurch waren kinderreiche Familien seltener anspruchsberechtigt. Und wenn sie berechtig waren, erhielten sie geringere Leistungen, da diese umgekehrt proportional zum Äquivalenzeinkommen berechnet wurden.
Leonardi: Nur sehr wenige Menschen haben Arbeit gefunden, und viele blieben zu lange in der Maßnahme.
Leonardi: Meines Erachtens war der größte Schwachpunkt der Maßnahme der negative Arbeitsanreiz. Die Abgangsrate in Beschäftigung aus dem RdC war sehr gering, es wurde also nur wenigen Personen eine Arbeitsstelle vermittelt. Nur sehr wenige Menschen haben Arbeit gefunden, und viele blieben zu lange in der Maßnahme.
Raitano: Das stimmt. Die Begünstigten konnten keine neuen Tätigkeiten aufnehmen, ohne dass ihre Leistungen gekürzt wurden. Die Transferentzugsrate, sprich der Grenzsteuersatz, für diejenigen, die eine neue Tätigkeit ausübten, lag zwischen 80 und 100 Prozent des zusätzlichen Lohns, was sehr hoch ist. Anders ausgedrückt gab es einen Negativanreiz für am Programm teilnehmende Personen, Arbeitsangebote anzunehmen.
Das Programm hatte ehrgeizige Ziele. Hat die Umsetzung des Programms diese erreicht, Professor Barbieri?
Paolo Barbieri: In gewisser Weise ja, denn das Programm war für italienische Verhältnisse gut finanziert. Das RdC hat sehr effektiv dazu beigetragen, Armut und Ungleichheit zu reduzieren: Die Armutsinzidenz sank um 2 Prozentpunkte, die Armutsintensität um 3 Prozentpunkte und Ungleichheit, gemessen am so genannten Gini-Index, um 0,5 Prozentpunkte. Das RdC hat jedoch nicht funktioniert, wenn es darum ging, Menschen zu aktivieren. Das hatte viele Gründe: Zum einen haben die Arbeitsämter in Italien schon immer ineffizient gearbeitet, sodass die Aktivierungsmaßnahmen recht spät und nur teilweise umgesetzt wurden.
Was sind die anderen Gründe?
Barbieri: Die Fünf-Sterne-Regierung verantwortete die Umsetzung des RdC, verfügte aber über keine Arbeitsmarktexpertise. Andererseits – und das ist vielleicht noch wichtiger – besteht in Italien ein chronischer Mangel an Nachfrage nach Arbeitskräften, und viele Unternehmen bieten Arbeitsplätze zu sehr schlechten Konditionen an, zum Beispiel schlecht bezahlte Kurzzeitjobs. Hinzu kam die Covid-Pandemie. Die Kombination aus dem Fehlen aktiver arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, Covid-19 und dem chronischen Mangel an Nachfrage nach Arbeitskräften machte es für das RdC fast unmöglich, als Aktivierungsmaßnahme erfolgreich zu sein.
Sie erwähnten die Covid-19-Pandemie. Welche Rolle spielte das RdC während der Pandemie?
Barbieri: Viele europäische Länder versuchten, der Covid-19-Pandemie durch eine Verstärkung der bereits als nationales Mindesteinkommenssystem bestehenden Maßnahmen zu begegnen. Das war in Italien jedoch nicht der Fall. Das RdC wurde von der Fünf-Sterne-Bewegung als „Wahlversprechen“ eingeführt. Ihre gesamte Wahlkampagne hatte auf dem Versprechen basiert, ein RdC einzuführen. Die Aussage, Familien 700 Euro geben zu wollen, hat ihre Wahlergebnisse deutlich verbessert und stark zu ihrem Wahlsieg beigetragen. Und sie hat 2018 tatsächlich die Wahl gewonnen – und dann das RdC eingeführt.
Barbieri: Das RdC wurde von der Fünf-Sterne-Bewegung als „Wahlversprechen“ eingeführt. Ihre gesamte Wahlkampagne hatte auf dem Versprechen basiert, ein RdC zu initiieren.
Als das Corona-Virus sich ausbreitete und ein Regierungswechsel stattfand, zögerten alle politischen Parteien, auch aus dem linken Lager, ein politisches Instrument auszubauen, das die Fünf-Sterne-Bewegung initiiert hatte. Stattdessen zogen sie es vor, eine neue Maßnahme einzuführen, das Reddito di Emergenza, das mit der Cassa Integrazione per Covid-19 kombiniert wurde. Die neue Regierung hat also aus politischen Gründen zwei neue Maßnahmen eingebracht, um das von der Vorgängerregierung eingeführte RdC nicht fortsetzen zu müssen.
Warum wurde das RdC 2023 eingestellt? Und was sind die wichtigsten Merkmale der neuen Maßnahmen „Assegno di inclusion“ und „Supporto per la formazione e il lavoro“?
Leonardi: Das RdC wurde eingestellt, als die neue Regierung unter Giorgia Meloni an die Macht kam. Diese rechtsgerichtete Regierung hatte eine andere Auffassung davon, was den Armen zusteht oder nicht. Sie hat neue Maßnahmen eingeführt: „Assegno di inclusione“ (ADI) und „Supporto per la formazione e il lavoro“ (SFL). Hier sind die Ausgaben und die Zahl der potenziell Anspruchsberechtigten viel geringer als beim RdC. Außerdem zielen sie stärker auf arme Familien mit Kindern und ältere Menschen ab, während es für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, Maßnahmen zur Förderung der Erwerbstätigkeit gibt. Das ADI ähnelt dem Eingliederungseinkommen aus dem Jahr 2017, da es nur für arme Menschen mit Kindern und Menschen mit Behinderungen gedacht ist. Die andere Maßnahme SFL ist ein Aktivierungsinstrument, das sich insbesondere an arbeitsfähige Personen richtet. Auf diese Weise hat die rechte Regierung im Jahr 2023 aus ideologischer Sicht eine Unterscheidung eingeführt zwischen Armen, die Unterstützung verdienen und solchen, die sie nicht verdienen.
Leonardi: Die rechte Regierung hat aus ideologischer Sicht eine Unterscheidung eingeführt zwischen Armen, die Unterstützung verdienen und solchen, die sie nicht verdienen.
Barbieri: Der Wechsel vom RdC zu den neuen Meloni-Sozialleistungen hatte auf der einen Seite den positiven Effekt, dass die Anforderung, dass Migranten seit zehn Jahren in Italien leben müssen, auf fünf Jahre herabgesetzt wurde. Auf der anderen Seite verschlimmerte eine neue Regelung die Lage der Bedürftigen: Die Äquivalenzskala basiert nun auf der Annahme, dass bei großen Familien sehr starke Skaleneffekte greifen. Im Ergebnis benachteiligen die neuen Sozialleistungen große Familien noch stärker als die Äquivalenzskala des RdC.
Insbesondere also arme Familien mit Kindern?
Barbieri: Ganz genau! Es scheint nur eine technische Anpassung zu sein, ist aber in Wirklichkeit eine substanzielle Angelegenheit. Aus einer universalistischen Perspektive sind die Anspruchsvoraussetzungen sowohl des ADI als auch des SFL zu eng definiert und zu stark einkommensabhängig: Das ADI setzt voraus, dass man erwerbstätig ist, in einer Familie mit jungen, behinderten oder älteren Menschen lebt und ein sehr geringes Haushaltseinkommen hat. Wer diese Bedingungen nicht erfüllt, hat keinen Anspruch auf das neue, durch die Meloni-Regierung eingeführte Mindesteinkommen. Das ist problematisch. Wenn man sich die Zahlen ansieht, haben mehr als 900.000 Haushalte mit der Einführung des neuen Systems ihr RdC verloren. Die Regierung hat Transferleistungen gekürzt, sodass diese Menschen ein höheres Einkommen benötigen und gezwungen sind, wieder eine (wie auch immer geartete) Arbeit anzunehmen, oft unter schlechten Bedingungen. Es handelt sich um eine harte „Workfare“-Maßnahme, nicht um eine Fürsorge-Maßnahme.
Ohne jegliche Unterstützung?
Barbieri: Ja, fast ohne Unterstützung. Oder mit sehr wenig Unterstützung und in jedem Fall unter strengen Auflagen für die Familie. Tatsächlich sind der Gini-Koeffizient und die absolute Armutsquote gestiegen. Im Jahr 2023 betrug der Anteil der von absoluter Armut betroffenen Haushalte an der Gesamtzahl der ansässigen Haushalte 8,5 Prozent, was etwa 5,7 Millionen Menschen entspricht. Natürlich gibt es bei den absoluten Armutsquoten drastische regionale Unterschiede: In Süditalien liegt der Anteil der von absoluter Armut betroffenen Haushalte bei über 10 Prozent.
Leonardi: Es gibt jedoch einen Aspekt, der wirklich rätselhaft ist: Einige glaubten, dass der Wegfall des RdC für einen großen Teil der Begünstigten im Jahr 2023 zu sozialer Unruhe führen würde, zumindest in einigen Teilen Italiens, wo Arbeitsplatzmangel herrscht. Das ist jedoch nicht geschehen. Niemand schien sich zu beschweren. Es gibt viele Erklärungsansätze für dieses große Rätsel. Entweder waren die Menschen es gewohnt, auf dem Schwarzmarkt zu arbeiten und waren dem Staat für das zusätzliche Geld in den wenigen Jahre des RdC dankbar, oder sie sind zu ihren Familien zurückgekehrt, oder sie leiden einfach im Stillen. Oder sie arbeiten ganz normal, ohne die Steuerbehörden zu informieren. Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Interpretationen.
Barbieri: Ja, das sehe ich auch so. Das Problem ist, dass wir über Daten und Untersuchungen zu den wirtschaftlichen Folgen des Übergangs vom RdC zur neuen Mindesteinkommensregelung verfügen, aber nicht über Daten zu den sozialen Folgen einer solchen Umstellung wie Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung usw.. Was geschieht mit den Kindern aus Haushalten, die die Leistung verloren haben? Wie sehen die nächsten Jahre für sie aus? Und was wird auf lange Sicht geschehen? Diese Fragen sind komplett unbeantwortet.
War die Reform in Bezug auf die Aufnahme von Arbeit wirksam? Gibt es dazu Daten?
Raitano: Dazu liegen uns keine Daten vor.
Raitano: Die Reform unterscheidet zwischen arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Armen. Ob jemand anspruchsberechtigt ist oder nicht, hängt also lediglich von der Beschäftigungsfähigkeit der Person ab.
Wie würden Sie die Reform insgesamt beurteilen?
Raitano: Die Reform unterscheidet zwischen arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Armen. Ob jemand anspruchsberechtigt ist oder nicht, hängt also lediglich von der Beschäftigungsfähigkeit der Person ab. Beschäftigungsfähigkeit basiert aber nicht auf einzelnen Merkmalen, wie zum Beispiel der Erwerbsbiografie einer Person, sondern auf der Zusammensetzung des Haushalts. Wenn Sie zu einem Haushalt gehören, der in einer guten Gegend lebt und zu dem ein 17-jähriges Kind gehört, sind Sie nicht erwerbsfähig. Wenn Sie in einer armen Gegend leben, aber ein 19-jähriges Kind haben, sind Sie erwerbsfähig und können mit Ausnahme der Supporto per la formazione e il lavoro keine Leistungen erhalten.
Mit anderen Worten: Es ist sehr ineffizient, die Beschäftigungsfähigkeit nur danach zu beurteilen, ob man in einem Haushalt mit alten, jungen oder behinderten Mitgliedern lebt. Es ist richtig und gerecht, dass die Reform die Leistungen für Haushalte erhöht hat, zu denen ein behindertes Mitglied gehört. Aber die Vorstellung, dass die Beschäftigungsfähigkeit nur davon abhängt, ob jemand ein Kind über oder unter 18 Jahren oder ein Haushaltsmitglied über oder unter 60 Jahren hat, entspricht nicht der Realität des Arbeitsmarktes.
Raitano: Beschäftigungsfähigkeit basiert nicht auf einzelnen Merkmalen, wie zum Beispiel der Erwerbsbiografie einer Person, sondern seit der Reform auf der Zusammensetzung des Haushalts.
Wie erfolgreich ist die Reform Ihrer Meinung nach bei dem Ziel, Begünstigte in Arbeit zu bringen?
Raitano: Zu den Begünstigten des RdC zählten viele Personen mit einem Einkommen über Null. Diese Menschen haben gearbeitet, aber nur wenige Stunden, zu niedrigen Löhnen und so weiter. Sie gingen aber durchaus einer Beschäftigung nach. Die Idee, die Leistung zu streichen, um mehr Menschen zu aktivieren, steht also im Widerspruch zu der Tatsache, dass viele bereits aktiviert sind. Es gibt viele Haushalte, in denen ein Mitglied erwerbstätig ist – aber diese Arbeit reicht nicht aus. Diese Menschen haben jedoch keinen Anspruch auf das Mindesteinkommen.
Wie könnte eine Aktivierung funktionieren?
Leonardi: Anstatt die Bevölkerung auf Grundlage der Zusammensetzung der Haushalte in erwerbsfähige und nicht erwerbsfähige Personen aufzuteilen, sollte die Regierung alle in einem System zusammenfassen, aber bei der Dauer der Maßnahme Unterscheidungen treffen. Die Leistung sollte niemandem für unendlich lange Zeit gewährt werden, um Arbeitsanreize für Menschen zu schaffen, die nicht arbeiten wollen und es vorziehen, Geld zu bekommen, ohne zu arbeiten. Beispielsweise könnte es eine Begrenzung auf sechs Monate pro Jahr geben. Findet eine Person, die Leistungen empfängt, während dieses Zeitraums Arbeit, die jedoch schlecht bezahlt ist, sollte sie weiterhin Leistungen erhalten. Wenn die Arbeit gut bezahlt ist, wird die Leistung natürlich eingestellt. Aber die begrenzte Dauer wirkt bereits als Anreiz. Die Maßnahme sollte für diejenigen, die in Bezug auf die Haushaltszusammensetzung tatsächlich arm sind, und für diejenigen, die minderjährige Kinder haben, potenziell unbegrenzt sein – es sei denn, sie finden einen Arbeitsplatz.
Es ist in Italien generell sehr schwierig, Anreize für eine Arbeitsaufnahme zu schaffen. Das ist die grundlegende Lektion, die wir aus der Erfahrung von drei Regierungen gelernt haben, die versucht haben, Maßnahmen zur Armutsbekämpfung umzusetzen.
Wie sieht es mit anderen Maßnahmen wie Beratung oder Qualifizierung aus?
Leonardi: Im Prinzip gibt es solche Maßnahmen bereits. Aber in der Praxis funktionieren sie nicht (lacht). Sie existieren nur in der Theorie.
Barbieri: Es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden – sichere Arbeitsplätze, langfristige Arbeitsplätze, beständige Arbeitsplätze. Das können wir nur durch eine wirksame Industriepolitik erreichen.
Barbieri: Ich möchte einen Punkt hervorheben: In Italien spricht niemand über Industriepolitik. Was sollten wir tun, wo sollten wir investieren? Alles andere scheint wichtiger zu sein. Die jüngsten Reformen unter Meloni haben mehr Aufmerksamkeit erregt als die tatsächlichen Gründe dafür, dass es in Italien keine Industriepolitik gibt. Das ist problematisch, denn es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden – sichere Arbeitsplätze, langfristige Arbeitsplätze, beständige Arbeitsplätze. Das können wir nur durch eine wirksame Industriepolitik erreichen.
Und im Hinblick auf die Reform des Programms? Was ist da Ihr Rat an die politischen Entscheidungsträger? Inwiefern sollten sie das Programm anpassen?
Raitano: Wir müssen die Äquivalenzskala anpassen, um die Höhe der Leistungen für Alleinstehende und Paare auf ein angemesseneres Niveau zu bringen und den Grenzsteuersatz senken, um Arbeitsanreize zu schaffen. Die Menschen sollten einige Monate lang arbeiten können, ohne dass die Leistungen gekürzt werden. Das würde ihnen den Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen, und aus einer Kurzzeitbeschäftigung könnte eine längerfristige Beschäftigung werden.
Außerdem müssen wir die Diskriminierung von nicht-italienischen Bürgerinnen und Bürgern beenden. Hier werden nicht nur Menschen aus dem Ausland diskriminiert, sondern auch italienische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die sich in den letzten Jahren nicht in Italien aufgehalten haben. In erster Linie sollten wir zum Prinzip des selektiven Universalismus zurückkehren – und dann das Mindesteinkommenssystem in Bezug auf Höhe, Leistungen und Arbeitsanreize anpassen. Und natürlich – aber das ist in Italien schon immer ein Problem – sollten wir eine wirksame Arbeitsmarktpolitik betreiben.
Barbieri: Ich als Soziologe habe mich Ende 2018 sehr gefreut, als das erste selektive universelle Mindesteinkommen eingeführt wurde, weil es ein absolutes Novum für den italienischen Sozialstaat war.
Barbieri: Ich als Soziologe habe mich Ende 2018 sehr gefreut, als das erste selektive universelle Mindesteinkommen eingeführt wurde, weil es ein absolutes Novum für den italienischen Sozialstaat war. Im Gegensatz dazu hat die neue Reform das italienische Sozialsystem um fünf bis zehn Jahre zurückgeworfen, anstatt es in Richtung eines anreizstärkeren Systems weiterzuentwickeln, das Menschen zurück in die Arbeit bringt – in Arbeit unter guten Bedingungen, nicht unter prekären, wie es derzeit der Fall ist. Ich glaube nicht, dass ein rein versicherungsbasiertes System der sozialen Absicherung die neuartigen sozialen Risiken auffangen kann, die sich aus dem postindustriellen Zeitalter und dem Aufkommen der digitalen Wirtschaft ergeben. Deshalb sollten wir zu einem universelleren System übergehen. Die Einführung des RdC war ein Schritt in die richtige Richtung. Ja, das System hatte Schwächen, und es gab Dinge, die man hätte besser machen können – aber letztendlich war es vor allem die Ideologisierung der Debatte, die uns um Jahrzehnte zurückgeworfen hat.
Leonardi: Ich stimme Paolo zu, dass wir angesichts der grünen und technologischen Revolution dringend ein universelles System brauchen. Wir dürfen diese Menschen nicht im Stich lassen. Derzeit sind diejenigen, die arbeitsfähig sind, auf sich allein gestellt. Da niemand protestiert, mag das vorerst in Ordnung sein. Aber in ein paar Jahren werden wir feststellen, dass die meisten dieser Menschen auf dem Schwarzmarkt arbeiten. Wir werden die Konsequenzen zu spüren bekommen – Konsequenzen, die aus gesellschaftlicher Sicht nicht wünschenswert sind. Wenn der Sozialstaat die Arbeitslosen sich selbst überlässt, finden sie vielleicht eine Arbeit, aber sicher nicht die Art von Arbeit, die sie hätten finden können, wenn man sie unterstützt hätte.
Leonardi: Wenn der Sozialstaat die Arbeitslosen sich selbst überlässt, finden sie vielleicht eine Arbeit, aber sicher nicht die Art von Arbeit, die sie hätten finden können, wenn man sie unterstützt hätte.
Barbieri: Überlassen Sie mir die Rolle des Soziologen. Wir wissen noch nicht viel darüber, welche Arten von neuen Arbeitsplätzen im Zuge der Digitalisierung entstehen werden und wer diese Stellen besetzen wird. Wenn aber nur junge Menschen in diesen Berufen arbeiten, wird das in den nächsten Jahren zu einem Problem werden – sowohl in Bezug auf Beitragszahlungen zum nationalen Rentensystem als auch in Bezug auf soziale Ausgrenzung. Junge Menschen sind die Zukunft des Landes. Die arbeitspolitischen Maßnahmen in Italien führen jedoch durchweg zu einer Verschlechterung der Arbeitsmarkt- und Arbeitsbedingungen für junge Menschen. Wir wälzen schon immer die Last der ausbleibenden Reformen und der Staatsverschuldung auf die jungen Menschen ab. Die jüngere Generation wird für die enorme Staatsverschuldung aufkommen müssen. Wenn ihre Mitglieder keine sicheren Arbeitsplätze finden, führt das nicht nur zu persönlichen, sondern auch zu kollektiven Problemen.
Reform des italienischen Bürgergeldes
Politischer Hintergrund der Reform:
Anfang dieses Jahres ersetzte die Regierung das frühere Bürgergeldprogramm („Reddito di Cittadinanza – RDI“) durch ein Sozialhilfesystem für ausgewählte bedürftige Gruppen („Assegno di inclusione – ADI“) und eine Beihilfe für bedürftige Personen, die keinen Zugang zum ADI haben, aber an einem Programm zur Förderung der Erwerbstätigkeit teilnehmen („Supporto per la formazione e il lavoro – SFL“).
Das italienische Bürgergeld RDI wurde 2019 durch den damaligen Premierminister Giuseppe Conte eingeführt. Die von der derzeitigen Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verabschiedete Reform soll die Zahl der Leistungsempfänger um 40 Prozent reduzieren. Die Ausgaben für die Leistungen sollen von 8,8 Milliarden Euro auf 5,8 Milliarden Euro pro Jahr (für ADI) plus etwa 1 Milliarde/Jahr (für SFL) sinken.
Am 1. Mai 2023 beschloss die italienische Regierung Ausgabeneinsparungen für das Bürgergeldprogramm. Die Regierung hofft, auf diese Weise die versprochenen Steuersenkungen finanzieren zu können. Die Ausgabenbeschränkungen führten für die Empfänger des Bürgergeldes zu erheblichen Kürzungen. Am Freitag, dem 28. Juli 2023, wurden etwa 169.000 Haushalte per SMS oder E-Mail kontaktiert und über die Einstellung des Programms informiert. Schätzungsweise 80.000 weitere Familien dürften bis Ende 2023 ihren Anspruch auf Sozialleistungen verloren haben. Die Zahl der Begünstigten dürfte durch die Kürzungen insgesamt von 2,1 Millionen Haushalten (RdC) auf 1,2 Millionen sinken. Es wurde berechnet, dass die ärmsten Familien, d. h. die Haushalte im ersten Dezil der verfügbaren Einkommensverteilung, jährlich etwa 1.300 Euro weniger zur Verfügung haben werden.
„Reddito di Cittadinanza“ (RdC):
Mit dem „Reddito di Cittadinanza“ wurden bis Juli 2023 arme Familien mit monatlichen Zahlungen unterstützt:
- Die monatlichen Zahlungen werden so berechnet, dass das gesamte Haushaltsäquivalenzeinkommen 6.000 Euro jährlich erreicht (oder 7.560 Euro, wenn alle Mitglieder über 67 Jahre alt oder behindert sind, dies ist die „Pensione di Cittadinanza“).
- Mietbeihilfe, die die Grundmiete abdeckt (bis zu 3.360 Euro pro Jahr oder 1.800 Euro jährlich für Haushalte mit ausschließlich über 67-jährigen oder behinderten Personen).
- Die Summe der beiden Leistungen darf höchstens 9.360 Euro pro Jahr betragen.
- Anspruch auf die Leistungen besteht für höchstens 18 aufeinander folgende Monate. Nach einer einmonatigen Unterbrechung ist ein neuer Antrag auf RdC möglich.
- Antragsberechtigt sind:
- Italienische Staatsbürger*innen, EU-Bürger*innen und Personen aus Drittländern mit langfristiger Aufenthaltsgenehmigung, die seit mindestens 10 Jahren und in den letzten 2 Jahren ununterbrochen in Italien gelebt haben.
- Der Indikator zur Einkommens- und Vermögenslage der Familie (ISEE) darf 9.360 Euro jährlich nicht überschreiten. Definition des ISEE: Haushaltseinkommen + 20 % unbewegliches und bewegliches Vermögen des Haushalts, geteilt durch die Anzahl der Haushaltsmitglieder.
- Das Haushaltsäquivalenzeinkommen darf nicht mehr als 6.000 Euro betragen.
- Wohneigentum darf einen Wert von höchstens 30.000 Euro haben.
- Das Finanzvermögen darf 6.360 Euro nicht überschreiten (zzgl. 2.000 Euro pro Mitglied bis zu einem Betrag von 10.000 Euro sowie 1.000 Euro für minderjährige Kinder ab dem dritten Kind).
Reform des Reddito di Cittadinanza (RdC):
Seit August 2023 gibt es für Personen, die zuvor das Bürgergeld erhalten haben, verschiedene Möglichkeiten, weiterhin Sozialleistungen zu erhalten.
- Typ 1: Haushalte mit mindestens einem Mitglied, das minderjährig, über 60 Jahre alt oder behindert ist, können das „Assegno di inclusione“ beantragen.
- Typ 2: Haushalte, die nur aus erwerbsfähigen Mitgliedern bestehen, d. h. nicht behinderte Personen zwischen 18 und 59 Jahren, können die „Supporto per la formazione e il lavoro“ beantragen.
Im Zeitraum August bis Dezember 2023:
- Für Familien des Typs 1 ändert sich nichts. Sie erhalten weiterhin bis zum Ende des Jahres oder des bewilligten Zeitraums ihre Leistungen.
- Familien des Typs 2 können 2023 insgesamt für maximal 7 Monate Bürgergeld erhalten. Wenn die Leistungen bereits von Januar bis Juli in Anspruch genommen wurden, wird die Zahlung sofort eingestellt.
- Personen, die das RdC neu beantragen, können im Jahr 2023 maximal 7 Monate lang Leistungen erhalten.
- Arbeitsfähige Personen, die das RdC erhalten, müssen an Bildungs-, Fortbildungs- oder Orientierungsmaßnahmen teilnehmen oder gemeinnützige Arbeit leisten.
„Assegno di inclusione“ (ADI) und „Supporto per la formazione e il lavoro“ (SFL):
In den folgenden Monaten wurde das RdC in zwei neue Programme aufgeteilt.
„Assegno di inclusione“ (= Eingliederungsschecks): ab 1.1.2024
- Familien des Typs 1 können die Leistung beantragen. Die Leistungen können an italienische Staatsbürger*innen, Bürger*innen aus EU-Staaten (oder deren Angehörige), Bürger*innen aus Drittländern mit langfristiger Aufenthaltsgenehmigung oder Personen, die internationalen Schutz genießen (politisches Asyl oder subsidiärer Schutzstatus), ausgezahlt werden. Nicht-italienische Staatsbürger*innen müssen seit mindestens 5 Jahren und in den letzten 2 Jahren ununterbrochen in Italien wohnen.
- ISEE der Familie von max. 9.360 Euro jährlich (gleicher Schwellenwert wie für das RdC).
(ISEE = (Haushaltseinkommen + 20 % unbewegliches und bewegliches Vermögen des Haushalts) / Anzahl der Haushaltsmitglieder) - Das Haushaltsäquivalenzeinkommen darf 6.000 Euro jährlich nicht überschreiten, bzw. 7.560 Euro, wenn alle Mitglieder über 67 Jahre alt sind oder eine Behinderung haben.
- Die Leistungen werden für höchstens 18 aufeinanderfolgende Monate gewährt, wobei nach einer Unterbrechung die Möglichkeit auf Verlängerung um weitere 12 Monate besteht.
- Die Leistungen umfassen:
- monatliche Zahlung von mindestens 480 Euro.
- Die monatlichen Zahlungen werden so berechnet, dass das gesamte Haushaltsäquivalenzeinkommen 6.000 Euro jährlich erreicht, bzw. 7560 Euro, wenn alle Mitglieder über 67 Jahre alt sind oder eine Behinderung haben.
- Mietbeihilfe zur Deckung der Grundmiete (bis zu 3.360 Euro pro Jahr bzw. 1.800 Euro pro Jahr für Haushalte mit ausschließlich über 67-jährigen oder behinderten Personen).
- Die erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder müssen an Bildungs-, Fortbildungs-, oder Orientierungsmaßnahmen teilnehmen, gemeinnützige Arbeit leisten oder berufstätig sein.
„Supporto per la formazione e il lavoro“ (Beihilfe für die Berufsausbildung): seit 1.9.2023
- Mitglieder von Familien des Typs 2 können sich als Einzelpersonen bewerben.
- Leistungen für Personen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren.
- Das ISEE der Familie darf 6.000 Euro jährlich nicht überschreiten.
- Die Begünstigten müssen an Bildungs-, Fortbildungs- oder Orientierungsmaßnahmen teilnehmen oder gemeinnützige Arbeit leisten und bei mindestens drei Arbeitsagenturen registriert sein.
- Wenn sie die Kurse nicht besuchen, werden die Leistungen eingestellt.
- Wenn Begünstigte ein Arbeitsangebot ablehnen, werden die Leistungen eingestellt. Ein Stellenangebot kann abgelehnt werden, wenn:
- ein Kind im Haushalt lebt oder der Vertrag befristet ist und der Arbeitsplatz über 80 km entfernt wäre (ansonsten gibt es keine Entfernungsbegrenzung).
- die Stelle schlechter bezahlt ist, als laut Tarifvertrag vorgesehen
- es sich um eine Teilzeitbeschäftigung handelt (weniger als 60 %)
- Auch einzelne Mitglieder von Haushalten des Typs 1 können einen Antrag stellen, werden dann aber bei der Berechnung der Leistungen aus dem „Assegno di inclusione“ nicht berücksichtigt.
- Die Leistungen betragen 350 Euro pro Monat für einen Zeitraum von maximal 12 Monaten.
Bild: ArTo/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20241108.01
Winters, Jutta; Högner, Magdalena (2024): Reform des Bürgergelds in Italien: „Die Menschen sollten einige Monate lang arbeiten können, ohne dass die Leistungen gekürzt werden“, In: IAB-Forum 8. November 2024, https://www.iab-forum.de/reform-des-buergergelds-in-italien-die-menschen-sollten-einige-monate-lang-arbeiten-koennen-ohne-dass-die-leistungen-gekuerzt-werden/, Abrufdatum: 15. November 2024
Autoren:
- Jutta Winters
- Magdalena Högner