Pedro S. Martins ist ein Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik. Denn Martins, der heute als Ökonomieprofessor an der Queen-Mary-Universität in London forscht, war von 2011 bis 2013 Staatssekretär im Wirtschafts- und Arbeitsministerium seines Heimatlandes Portugal.  Zu einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, in ganz Südeuropa als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise von Rekord zu Rekord eilte. Damit eröffnete sich für ihn die einmalige Chance, als Politiker Maßnahmen zur Bekämpfung der Jobmisere umzusetzen, die er als Forscher selbst immer wieder gefordert hatte. Im Interview für das IAB-Forum spricht er über seine Einschätzungen und Erfahrungen.

Wie in anderen südeuropäischen Ländern ist auch in Ihrem Heimatland Portugal die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für die Misere? Liegt es eher an einer allgemeinen Wachstumsschwäche in diesen Ländern oder an einer besonderen Benachteiligung junger Menschen auf den dortigen Arbeitsmärkten?

Letztlich dürfte der Grund für die hohe Arbeitslosigkeit gerade bei jungen Menschen darin liegen, dass man die Herausforderungen, die die Euromitgliedschaft für Portugal und andere südeuropäische Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit sich gebracht hat, falsch eingeschätzt hat. Mit dem Euro eröffneten sich sehr gute Wachstumschancen. Aber der Euro hätte eben auch andere Wirtschafts- und insbesondere Arbeitsmarktinstitutionen erfordert, als sie in Ländern mit traditionell hoher Inflation üblich waren. Der Euro schuf überdies eine Wohlstandsillusion, welche dazu führte, dass sich die südeuropäischen Volkswirtschaften massiv verschuldeten und kreditfinanzierte Fehlinvestitionen tätigten. Als Europa 2008 von der Finanzkrise getroffen wurde, waren deren Auswirkungen in Ländern wie Portugal besonders gravierend. Und angesichts eines relativ segmentierten Arbeitsmarktes traf die Krise vor allem die Outsider – und damit überproportional junge Menschen.

Als Forscher haben Sie sich die Situation in Deutschland angeschaut, wo deutlich weniger junge Menschen arbeitslos sind. Was macht Deutschland aus Ihrer Sicht anders?

Deutschland hatte seine Arbeitsmarktinstitutionen mit den Hartz-Reformen schon vor der Finanzkrise maßgeblich modernisiert. Und bereits vorher gab es eine starke Dezentralisierung des Tarifvertragsystems, was die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessert hat. Ein Pluspunkt ist sicherlich auch die enge Verbindung zwischen Betrieben und Bildungssystem, insbesondere über die duale Ausbildung. Nicht zuletzt hat Deutschland mit der Bundesagentur für Arbeit vermutlich eine der modernsten und dynamischsten öffentlichen Arbeitsverwaltungen der Welt. Das trägt maßgeblich dazu bei, den Arbeitsmarkt effizienter zu machen.

„Deutschland hat mit der Bundesagentur für Arbeit vermutlich eine der modernsten und dynamischsten öffentlichen Arbeitsverwaltungen der Welt.“

Kann Südeuropa Lehren aus der deutschen Situation ziehen? Inwieweit ist das deutsche Modell übertragbar?

Da gibt es sicherlich, wie bereits angedeutet, eine ganze Reihe an Lehren. Die Reformen, die zwischen 2010 und 2013 in Südeuropa auf den Weg gebracht wurden, basieren teilweise auf den Reformen, die Deutschland schon zehn Jahre zuvor umgesetzt hatte. Dennoch ist das deutsche Modell natürlich nicht 1:1 übertragbar. So hat sich etwa das Ausbildungssystem über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte hinweg entwickelt. Ein solches System kann nicht über Nacht nach Südeuropa verpflanzt werden. Hinzu kommt: Für Deutschland war die Einführung des Euro im Prinzip ein Nicht-Ereignis, für andere Länder hingegen ein echter Systemwechsel – auch wenn man sich über dessen Auswirkungen zum Zeitpunkt der Einführung nur teilweise im Klaren war.

Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, damit sich die Situation in Südeuropa grundlegend verbessert?

Der Erholungsprozess ist in vielen Ländern Südeuropas bereits in vollem Gange. In Portugal etwa sank die Arbeitslosenquote von knapp 18 Prozent im Jahr 2013 auf zwölf Prozent im Jahr 2015. Und die Wirtschaft wächst in diesem Jahr um nahezu drei Prozent. Dennoch ist es entscheidend, den Reformkurs fortzusetzen und angesichts der positiven Aussichten nicht in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Es ist viel besser, in Phasen wirtschaftlichen Wachstums zu reformieren als in Krisenzeiten. Ich denke, es sind insbesondere zwei Handlungsfelder, auf die sich die Südstaaten der EU stärker als bislang konzentrieren sollten: die Arbeitsverwaltung und das System der Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern. Denn in diesen Bereichen sind viele südliche Mitgliedsstaaten immer noch meilenweit von dem entfernt, was international als „best practice“ gilt.

„Es ist viel besser, in Phasen wirtschaftlichen Wachstums zu reformieren als in Krisenzeiten.“

Sie sind nicht nur Forscher, sondern waren zwischen 2011 und 2013 auch Staatssekretär im Wirtschafts- und Arbeitsministerium der portugiesischen Regierung. Wie viele von den Maßnahmen, die Sie als Forscher propagiert haben, konnten Sie als aktiver Politiker umsetzen?

Ich war in der glücklichen Lage, den Großteil davon auch umsetzen zu können. Dazu gehörten die Modernisierung der Arbeitsverwaltung, die Einführung von neuen Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik, eine stärkere Dezentralisierung der Lohnverhandlungen (verbunden mit einem stärkeren Gewicht auf die Repräsentativität der Sozialpartner), eine Verringerung der Unterschiede beim Kündigungsschutz zwischen befristet und unbefristet Beschäftigten, ein effizienter ausgestaltetes Arbeitslosengeld und ein erleichterter Zugang zu einigen reglementierten Berufen. Diese Maßnahmen waren schon im Vorfeld von vielen Wissenschaftlern, auch von mir selbst, sowie von internationalen Organisationen als wichtig identifiziert worden. Nach deren Einführung und Umsetzung wurden einige Maßnahmen bereits evaluiert, mitunter auf Basis von kontrafaktischen Ansätzen und Mikrodaten (etwa in einer detaillierten Studie der OECD). Dabei zeigte sich, dass diese Maßnahmen einen wesentlichen Beitrag zur schnellen Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt, und möglicherweise auch der wirtschaftlichen Situation insgesamt, geleistet haben.

Hat die Politik in Ihren Augen eher ein Erkenntnis- oder ein Umsetzungsproblem?

Politiker sind tendenziell risikoavers. Im Allgemeinen reden sie lieber als zu handeln. Politische Entscheidungen sorgfältig abzuwägen und deren praktische Umsetzung zu überprüfen bringt ihnen politisch kaum Vorteile. Der politische Zyklus, der sich stark an Wahlperioden orientiert, bietet kaum Anreize für Entscheidungen, deren Kosten kurzfristig und deren Vorteile langfristig anfallen. Politiker ticken insoweit ganz anders als Wissenschaftler. Und sobald Forscher zu Politikern werden – und umgekehrt – gleichen sie sich ihren neuen Kollegen tendenziell an. Angesichts dessen sollten Forscher ihr Möglichstes tun, den Dialog mit Politikern und insbesondere der allgemeinen Öffentlichkeit zu suchen, sei es indirekt über die Medien, sei es direkt über soziale Netzwerke – mit neuen Ideen und mit Befunden, die Aufmerksamkeit erzeugen, Diskussionen anregen und letztlich politisches Handeln begründen können.

„Politiker ticken ganz anders als Wissenschaftler.“

Wäre die Jugendarbeitslosigkeit in Portugal heute niedriger, wenn das Land nicht der Eurozone beigetreten wäre und mithin seine Währung hätte abwerten können?

Kurz- und mittelfristig auf jeden Fall, aber nicht notwendigerweise langfristig. Wie ich vorhin schon ausgeführt hatte, war es eine Kombination aus unterschiedlichen Faktoren, durch die Länder wie Portugal in eine außerordentlich brenzlige Lage gerieten: die Tatsache, dass die Euroeinführung nicht mit institutionellen Reformen einherging; die wachsende private und öffentliche Verschuldung in den 2000er Jahren; gleichzeitig der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und die Schärfe der Finanzkrise von 2008. In früheren Krisen hätten eine Abwertung der Währung und die daraus folgende hohe Inflation die Reallöhne gedrückt und so Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung gesichert. Ganz anders in der letzten Krise: Die Inflation lag praktisch bei null. Angesichts nach unten starrer Nominallöhne schlug dies unmittelbar auf die Beschäftigung durch. Die Zahl der Neueinstellungen ging drastisch zurück, was in erster Linie für die Jüngeren verheerende Konsequenzen hatte. Langfristig, so glaube ich, kann eine stabile Währung aber durchaus das Wachstum fördern – und damit auch die Beschäftigungsperspektiven junger Menschen.

 

Die Fragen stellten Silke Anger und Martin Schludi.