Ähnlich wie in Deutschland ergänzt auch in der Schweiz ein leistungsfähiges und durchlässiges System der Berufsbildung den klassischen akademischen Bildungsweg. In der Schweiz führt dies zu mehr Aufstiegschancen und insgesamt mehr höherer Bildung und verbesserten Einkommen. Zu diesem Ergebnis kommt der Berner Bildungsökonom Stefan C. Wolter in einem Gastbeitrag für das IAB-Forum.

Tertiäre Bildungsabschlüsse ermöglichen nachweislich deutlich höhere Einkommen. Zugleich wird gesellschaftlicher Status in weiten Teilen vor allem an akademischen Bildungsabschlüssen und an Bildungsjahren gemessen. Da mutet es wie ein Paradoxon an, wenn behauptet wird, dass die Berufsbildung – also die berufliche Grundbildung auf der Sekundarstufe II als auch die höhere Berufsbildung – soziale und ökonomische Mobilität fördern könne. Doch der Widerspruch ist nur scheinbar. Die Auflösung dieses vermeintlichen Widerspruchs liegt in drei zentralen Punkten, die zusammengenommen erklären, weshalb die Berufsbildung einen entscheidenden Beitrag zur sozialen Mobilität leistet.

Verhindern von Bildungsabbrüchen

Auch wenn Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen über die gesamte Erwerbsbiografie hinweg in der Schweiz im Schnitt rund 40 Prozent mehr verdienen als solche mit niedrigeren Abschlüssen, zeigt sich: In vielen Ländern verpasst ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen den Weg zu höherer Bildung nicht erst an der Schwelle zur Tertiärstufe, sondern scheitert bereits bei dem Versuch, überhaupt einen nachobligatorischen Abschluss zu erreichen. In diesen Fällen nützen die hohen Einkommensprämien tertiärer Abschlüsse nichts, weil sie für die Betroffenen von Anfang an außer Reichweite bleiben.

Gerade deshalb ist ein starkes Berufsbildungssystems so wichtig. Es verhindert in vielen Fällen, dass Jugendliche den Anschluss verlieren, und stellt sicher, dass möglichst viele einen Abschluss auf Sekundarstufe II erlangen. Zwar verfehlt die Schweiz knapp ihr eigenes ambitioniertes Ziel, dass 95 Prozent aller 25-Jährigen einen entsprechenden Abschluss vorweisen können. Dennoch liegt sie im internationalen Vergleich weiterhin an der Spitze. Dass die Berufsbildung hierbei eine Schlüsselrolle spielt, zeigt sich auch im innerkantonalen Vergleich: Je höher die Beteiligung an der Berufsbildung, desto höher ist auch die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II insgesamt.

Es gibt gute Gründe dafür, dass Berufsbildung nicht nur mit Bildungserfolg korreliert, sondern kausal dazu beiträgt. Unabhängig vom jeweiligen Bildungssystem gilt nämlich: Am Ende der obligatorischen Schulzeit ist ein grosser Teil der Jugendlichen schulmüde. Systeme, die nur mehr Schule anbieten, verlieren in dieser Phase viele Lernende. Die Möglichkeit, schulisches Lernen mit praktischer Berufserfahrung zu kombinieren und früh in die Erwachsenenwelt einzutreten, wirkt dagegen stabilisierend. Sie motiviert Jugendliche, ihre Ausbildung weiterzuführen.

Hinzu kommt, dass sich in der Berufsbildung für viele die Gelegenheit bietet, Talente einzusetzen und zu entwickeln, die im allgemeinbildenden Unterricht kaum oder gar nicht berücksichtigt werden. Jugendliche, die im traditionellen Bildungskanon mittelmässig geblieben oder gar gescheitert wären, erleben im Lehrberuf nicht nur berufliche Erfolge, sondern auch einen wichtigen Bildungserfolg. Damit wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Bildungsbiografie fortsetzen, deutlich erhöht.

Niedrige Abiturquote, hohe Tertiärquote

Dieser Mechanismus erklärt, weshalb die Schweiz, obwohl sie im internationalen Vergleich bei der gymnasialen Abiturquote zu den Schlusslichtern in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zählt, gleichzeitig bei der Tertiärquote überdurchschnittlich abschneidet. Auf den ersten Blick mag das widersprüchlich erscheinen, tatsächlich hängt beides eng zusammen.

In vielen Ländern werden Jugendliche, die zwar das Abitur schaffen konnten, aber nicht über das notwendige Rüstzeug für ein Studium verfügen, durch einen expliziten oder impliziten Numerus clausus vom Studium ferngehalten oder wenden sich nach enttäuschenden Bildungserfahrungen selbst dagegen. Aufgrund fehlender Anschlussmöglichkeiten auf der tertiären Stufe und dem Fehlen eines qualitativ hochstehenden und funktionierenden Berufsbildungssystems stehen dann viele vor dem Nichts.

In der Schweiz hingegen gelangen überdurchschnittlich viele Jugendliche, die andernorts den Bildungsweg abgebrochen hätten, doch noch zu einem höheren Bildungsabschluss. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Berufsbildung ihnen die Motivation und das Erfolgserlebnis vermittelt hat, welche für eine Weiterführung der Bildungskarriere entscheidend sind.

Pluralität, Durchlässigkeit, Qualität und Selektion

Damit aber Berufsbildung tatsächlich soziale und ökonomische Mobilität ermöglicht, braucht es zusätzliche institutionelle Rahmenbedingungen. Zentral sind vier Elemente:

  • Erstens eine pluralistische Angebotsstruktur auf Tertiärstufe, die nicht nur Universitäten, sondern auch Fachhochschulen und die höhere Berufsbildung umfasst.
  • Zweitens eine ausgeprägte Durchlässigkeit, die es erlaubt, Bildungswege auch nach der obligatorischen Schulzeit zu wechseln. Nur so lassen sich Sackgassen vermeiden, die zur Abwertung der Berufsbildung führen und bewirken würden, dass talentierte Jugendliche sich von Beginn an gegen diesen Weg entscheiden.
  • Drittens eine konsequente Qualitäts- und Arbeitsmarktorientierung, welche sicherstellt, dass die ökonomischen Erträge pro Bildungsjahr vergleichbar hoch sind – unabhängig davon, ob die Ausbildung an einer Universität, einer Fachhochschule oder im Rahmen der höheren Berufsbildung erfolgt.
  • Viertens sind Selektionskriterien im Bildungssystem wichtig, die sich direkt an arbeitsmarktrelevanten Anforderungen orientieren. Bildungssysteme mit einem einheitlichen, allgemeinbildenden Modell tendieren dazu, Selektionsentscheidungen an schulischen Fächern festzumachen, die für den Arbeitsmarkt häufig nur eine geringe Bedeutung haben.

Die duale Berufsbildung hingegen bindet Unternehmen nicht nur direkt in die Gestaltung der Bildungsinhalte ein, sondern auch in die Auswahl und Selektion der Jugendlichen. Dadurch wird sichergestellt, dass die erfolgreich ausgebildeten jungen Menschen den Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprechen und die Abschlüsse tatsächlich eine ökonomischen Mobilität ermöglichen. Vornehmlich allgemeinbildende Systeme führen hingegen häufig zu Mismatches auf dem Arbeitsmarkt, das heißt zu Situationen, in denen Personen im Bildungssystem zwar höchst erfolgreich waren, danach jedoch keine Stelle finden, in der sie ihre erworbenen Kompetenzen einsetzen können.

Unternehmensnachfolge als Sprungbrett

Die ersten beiden Argumente zeigen, dass Berufsbildung im Gegensatz zur verbreiteten Ansicht nicht eine nachgeordnete Rolle für Mobilität spielt, sondern im Gegenteil zentrale Voraussetzungen dafür schafft. Hinzu kommt jedoch ein drittes Argument: Aufstieg ist auch ohne tertiäre Bildung möglich, und nicht jede höhere Bildung führt automatisch zu höheren Einkommen.

Ganz besonders gilt dies, wenn Berufsbildung den Weg in eine erfolgreiche Selbständigkeit eröffnet. Dabei geht es nicht um Scheinselbständigkeit im Rahmen von Ein-Personen-Betrieben, sondern um die Chance, Unternehmen aufzubauen, weiterzuentwickeln oder zu übernehmen.

Die demografische Entwicklung verstärkt diese Möglichkeit: Aufgrund des derzeitigen Rückzuges der Babyboomer vom Arbeitsmarkt suchen schätzungsweise jährlich rund 15.000 Unternehmen in der Schweiz eine Nachfolgelösung, was zahlenmäßig rund einem Fünftel eines Abschlussjahrganges in der beruflichen Grundbildung entspricht. Viele dieser Betriebe sind im handwerklichen oder dienstleistungsorientierten Bereich tätig, wo akademische Qualifikationen traditionell wenig verbreitet sind.

Damit eröffnen sich für junge Menschen außergewöhnliche Berufschancen. Wer eine Lehre absolviert und diese mit einem Abschluss der höheren Berufsbildung ergänzt, kann bereits in jungem Alter in die Rolle der Eigentümerin oder des Eigentümers hineinwachsen. Im Erfolgsfall sind die ökonomischen Erträge dieser beruflichen Selbständigkeit oft höher als die Einkommen durchschnittlicher Akademikerinnen und Akademiker. Es ist daher durchaus möglich, dass die Berufsbildung in naher Zukunft nicht weniger, sondern sogar mehr soziale Mobilität ermöglicht als ein klassischer akademischer Werdegang.

Die Beobachtung, dass die Schweiz sich im internationalen Vergleich durch eine besonders ausgeprägte ökonomische Mobilität auszeichnet, kann im Lichte dieser Überlegungen so interpretiert werden, dass dies nicht „trotz“ der starken Verbreitung der dualen Berufsbildung möglich ist, sondern gerade „deswegen“. Diese erlaubt es nicht nur, unterschiedlichste Talente zur Entfaltung zu bringen, die in klassischen, stark auf Allgemeinbildung fokussierten Bildungssystemen weder gefördert noch berücksichtigt würden. Sie steigert zudem die Lernmotivation bei Jugendlichen, die zwar leistungsbereit und -fähig sind, jedoch stärker durch extrinsische als durch intrinsische Anreize angesprochen werden.

In einem pluralistischen und durchlässigen Bildungssystem, wie es in der Schweiz existiert, bedeutet die Wahl einer beruflichen Ausbildung daher in den meisten Fällen auch keine Abwahl einer höheren und längeren Ausbildung, die für viele gut entlohnte Berufe und Karrieren unabdingbar geworden ist.

Angesichts der bevorstehenden demografischen Herausforderungen sowie der technologischen Entwicklungen – Stichwort künstliche Intelligenz – ist es schließlich durchaus wahrscheinlich, dass die Bedeutung der Berufsbildung in Zukunft weiter zunehmen wird, um soziale Mobilität nicht nur zu fördern, sondern vielerorts überhaupt erst zu ermöglichen.

In aller Kürze

  • Hohe Bildungsmotivation durch Praxisbezug: Berufsbildung verhindert dadurch Bildungsabbrüche und sorgt dafür, dass mehr Jugendliche überhaupt einen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen.
  • Hohe Tertiärquote trotz tiefer Abiturquote: Trotz vergleichsweise geringer gymnasialer Abiturquote führt die Durchlässigkeit der Berufsbildung dazu, dass viele Jugendliche später dennoch tertiäre Bildungsabschlüsse erreichen.
  • Institutionelle Bedingungen sind entscheidend: Pluralität der Bildungsangebote auf der Tertiärstufe, Durchlässigkeit, Qualitäts- und Arbeitsmarktorientierung sowie ein arbeitsmarktnahes Selektionssystem sichern den Erfolg des Berufsbildungssystems.
  • Berufsbildung als Sprungbrett zur Selbständigkeit: Viele Unternehmensnachfolgen eröffnen jungen Menschen Chancen auf wirtschaftlichen Aufstieg – oft mit höheren Erträgen als akademische Laufbahnen.

Eine weitgehend identische Fassung dieses Beitrags wurde am 8.11.2025 in der Neuen Züricher Zeitung publiziert.

 

Bild: auremar/stock.adobe.com
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20251205.01

Wolter, Stefan (2025): Berufsbildung ist zentral für soziale Mobilität, In: IAB-Forum 5. Dezember 2025, https://iab-forum.de/berufsbildung-ist-zentral-fuer-soziale-mobilitaet/, Abrufdatum: 5. December 2025

 

Diese Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht: Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de