Im Januar 2023 soll das Arbeitslosengeld II vom Bürgergeld abgelöst werden. Dies sieht unter anderem höhere Bedarfssätze, verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten, längere Schonfristen bei der Unterkunft, eine großzügigere Vermögensanrechnung und finanzielle Anreize für Weiterbildung vor. Die Beurteilungen der Reform in medialen und politischen Debatten sind kontrovers. Auch das IAB bezieht in einem heute erschienenen ausführlichen Bericht Stellung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 14. September 2022 (nicht berücksichtigt ist der am 4. November bekannt gewordene Änderungsantrag der Bundesregierung). Die Redaktion des IAB-Forums hat bei Kerstin Bruckmeier und Ulrich Walwei, die an der Stellungnahme beteiligt waren, nachgehakt.


Frau Bruckmeier, Herr Walwei: „Arbeit lohnt sich bald nicht mehr“, sagen einige Kritiker. Mit dem Bürgergeld komme man besser weg. Andere wiederum kritisieren, dass angesichts der Inflation die Erhöhung der Regelsätze längst nicht ausreichend sei. Wie bewerten Sie die neuen Regelsätze?

Porträtfoto von Dr. Ulrich Walwei

Prof. Dr. Ulrich Walwei ist Vizedirektor des IAB.

Ulrich Walwei: Wer arbeitet, hat auch nach der Reform mehr als jemand, der nur von Transferleistungen lebt. Das liegt schon alleine daran, dass ein Verdienst nicht voll auf das Bürgergeld angerechnet wird. Die Erhöhung des Regelsatzes um rund 50 Euro wirkt dabei auf den ersten Blick zwar sehr kräftig, die derzeitige Inflation relativiert das aber deutlich. Damit reicht der neue Regelsatz allein zwar nicht aus, um die materielle Teilhabe der Leistungsbeziehenden stark zu verbessern. Für viele der Betroffenen, bei denen die Einkommen zu einem sehr großen Teil in den täglichen Konsum gehen, dürfte die Erhöhung jedoch größeren Mangellagen entgegenwirken. Alles in allem scheint mir die Erhöhung des Regelsatzes in der jetzigen Situation als angemessen.

Wie wird sich die Erhöhung der Regelsätze auf den Arbeitsmarkt auswirken?

Kerstin Bruckmeier

Dr. Kerstin Bruckmeier leitet die Forschungsgruppe
Grundsicherungsbezug und Arbeitsmarkt (GAMA) am IAB.

Kerstin Bruckmeier: Wären die äußeren Bedingungen gleichbleibend, würden höhere Regelsätze zu einem negativen Effekt auf das Arbeitsangebot führen – also zu mehr Personen im Leistungsbezug, die nicht arbeiten. Davon ist aber nicht auszugehen. Zum einen handelt es sich, wie Ulrich Walwei schon anführt, bei der Regelsatzerhöhung mehr oder weniger um einen Inflationsausgleich. Zum anderen wurde 2022 der Mindestlohn kräftig erhöht, und wir rechnen auch 2023 mit weiteren Lohnsteigerungen. Außerdem weitet die Bürgergeld-Reform die Hinzuverdienstmöglichkeiten etwas aus und schafft damit mehr finanzielle Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Wenn wir dann noch die weiteren Reformen bei Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld berücksichtigen, gehen wir von keinen nennenswerten Auswirkungen der Regelsatzerhöhung auf das Arbeitsangebot im Niedrigeinkommensbereich aus.

In Bezug auf Sanktionen sieht der Gesetzentwurf in vielfacher Hinsicht eine Entschärfung vor. Verliert das Fordern im „Fördern und Fordern“ durch wegfallende Sanktionen seinen Biss?

Walwei: Die Grundidee der Reform, die Voraussetzungen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen dem Jobcenter und den Leistungsbeziehenden zu verbessern, halte ich für richtig. Auch in Zukunft sind ja Leistungsminderungen möglich, wenn Termine ohne wichtigen Grund nicht wahrgenommen werden oder andere Pflichtverletzungen wiederholt vorkommen. Das derzeit geltende Sanktionsmoratorium und die Vertrauenszeit hätte es meiner Einschätzung nach dagegen nicht gebraucht. Aber es ist das gute Recht der Politik, solche Fragen politisch zu entscheiden. Mitwirkung ist für den Einzelnen wichtig, um den Anschluss am Arbeitsmarkt nicht zu verlieren, und für die Volkswirtschaft ist es wichtig, Arbeitskräfteengpässen entgegenzuwirken.

Es gibt nun einen größeren Entscheidungsspielraum, um den sehr verschiedenen Gruppen im Leistungsbezug die jeweils passende Förderung zukommen zu lassen.

Mit dem Wegfall des Vermittlungsvorrangs sollen Personen nicht mehr nur möglichst schnell, sondern vor allem nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert werden – insbesondere auch durch verbesserte Weiterbildungsangebote. Was erwarten Sie davon?

Bruckmeier: Ich finde es sinnvoll, den Fokus stärker auf eine nachhaltige Eingliederung zu legen. Es hat sich gezeigt, dass Arbeitsaufnahmen von Arbeitslosengeld-II-Beziehenden bisher oft von kurzer Dauer waren, und dadurch nicht geeignet, den Leistungsbezug längerfristig zu verlassen. Natürlich sollte die Option bestehen bleiben, eine schnelle Beschäftigungsaufnahme anzustreben, zum Beispiel bei günstiger Arbeitsmarktlage und guten Arbeitsmarktchancen. Für andere bildungsschwächere Leistungsbeziehende ist es außerdem schon als Erfolg zu betrachten, wenn sie überhaupt Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Aber durch die Änderungen beim Bürgergeld gibt es nun einen größeren Entscheidungsspielraum, um den sehr verschiedenen Gruppen im Leistungsbezug die jeweils passende Förderung zukommen zu lassen.

Walwei: Wie groß der Effekt der neuen Vorgehensweise auf den Arbeitsmarkt ausfallen wird, können wir noch nicht quantifizieren. In der Tendenz erwarte ich schon, dass es dadurch in manchen Fällen länger dauern wird, bis Arbeitslose wieder eine Beschäftigung aufnehmen. Unterm Strich würde ich dennoch annehmen, dass die positiven Auswirkungen dieser nachhaltigeren Integrationen den neuen Ansatz rechtfertigen.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass für Erwerbstätige der Freibetrag, den sie vom anzurechnenden Einkommen absetzen können, in einem bestimmten Einkommensbereich um zehn Prozentpunkte steigt. Dadurch soll auch das Arbeitskräfteangebot erhöht werden. Wird sich denn dadurch ein Zuverdienst für die Leistungsbeziehenden monetär deutlich mehr lohnen als vorher?

Walwei: Der maximale Nettoeinkommensgewinn liegt bei 48 Euro. Der Effekt ist also schon in absoluten Zahlen nicht sehr groß und bezieht sich allein auf sozialversicherungspflichtig Teilzeitbeschäftigte. Daher würde ich hier keine großen Auswirkungen auf das Arbeitsangebot erwarten. Die monetären Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen, müssen weiter steigen, gerade für vollzeitbeschäftigte Personen. Die noch geltende Besserstellung der geringfügigen Beschäftigung ist aus arbeitsökonomischer Sicht nicht nachvollziehbar.

Bruckmeier: Um überhaupt nennenswerte Effekte erzielen zu können, werden weitere Maßnahmen benötigt. Deshalb kann die geplante Änderung nur einen ersten Schritt hin zu einer umfassenderen Reform darstellen. Diese sollte beispielsweise auch die Wechselwirkungen des Bürgergeldes mit dem Wohngeld oder der neuen Kindergrundsicherung berücksichtigen.

Mit den neuen Karenzzeiten werden vor allem Personen mit einer längeren Erwerbsbiografie unterstützt.

Ein Gutachten des Bundesrechnungshofes kritisiert die hohen Vermögensfreigrenzen und die zusätzlichen Kosten für die Steuerzahlenden. Massive Fehlanreize könnten zu Missbrauch führen. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Bruckmeier: Die hohen Vermögensfreibeträge werden insbesondere in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges, während einer Karenzzeit, gewährt. Sie orientieren sich dabei am Wohngeld und betragen für das erste Haushaltsmitglied 60.000 Euro. Dieser Betrag erscheint zwar hoch, allerdings gelten die Regeln zum erleichterten Zugang in die Grundsicherung bereits seit der Corona-Krise, genauso wie die Übernahme der Wohnkosten in voller Höhe. Wir konnten seitdem keinen massiven Anstieg der Grundsicherungsbeziehenden beobachten.

Ich glaube auch nicht, dass Erwerbstätige mit Vermögen aufgrund der Karenzzeit ihre Beschäftigung aufgeben. Es werden dadurch eher Personen mit einer längeren Erwerbsbiografie unterstützt, damit sie ihr Angespartes nicht gleich angreifen müssen, sobald sie in den Leistungsbezug geraten. Es muss jedoch noch untersucht werden, ob sich die Neuregelung negativ auf die Dauer der Arbeitslosigkeit auswirkt oder etwa Übergänge aus Arbeitslosigkeit in den Ruhestand fördert. Insofern ist es wichtig, dass beim Leistungsbezug weiterhin die Integration in Beschäftigung das wichtigste Ziel bleibt. Deshalb ist es unabdingbar, dass die großzügigere Regelung auf einen Zeitraum begrenzt bleibt, auch für die Akzeptanz der Grundsicherung in der Bevölkerung. Ob der Zeitraum von zwei Jahren zu lang gewählt ist, bleibt zu prüfen.

Walwei: Die geplanten Gesetzesänderungen sind in meiner Wahrnehmung ganz klar politisch zu entscheidende Fragen. Über die Details kann man selbstverständlich verschiedener Auffassung sein. So gut sich die Änderungen jetzt begründen lassen, mit Blick auf ihre Wirkungen müssen sie erst noch einer wissenschaftlichen Evaluation unterzogen werden.

Ich habe die Hoffnung, dass mit dem neuen Bürgergeld die öffentliche Diskussion wieder sachlicher wird.

Wo sehen Sie weitere Vor- oder Nachteile des neuen Bürgergelds?

Walwei: Erfreulich finde ich, dass bei der Reform des Bürgergeldes viele Impulse aus der Forschung aufgegriffen wurden. Ich habe außerdem die Hoffnung, dass mit dem neuen Bürgergeld die öffentliche Diskussion wieder sachlicher wird. Hartz IV wurde für viele zum Kampfbegriff. Das hat der öffentlichen Debatte nicht gutgetan. Vielfach wurde ein sehr verzerrtes Bild von der Arbeit der Jobcenter gezeichnet. Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir hier zu einer sachlicheren Diskussion zurückfinden. Wichtig wird es sein, Menschen in einer schwierigen Lebenssituation in angemessener Weise teilhaben zu lassen und sie in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse bei einer möglichst nachhaltigen Eingliederung zu unterstützen.

Literatur

Bauer, Frank et al. (2022): Bürgergeld-Gesetz. Stellungnahme des IAB zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Bürgergeldes, IAB-Stellungnahme Nr. 7.

doi: 10.48720/IAB.FOO.20221107.01