29. Juni 2022 | Interviews
Teilhabechancengesetz: Wie das IAB die Perspektive der Geförderten ergründet
Das Teilhabechancengesetz trat zum 1. Januar 2019 in Kraft. Den Kern des Gesetzes bilden zwei Förderinstrumente:
- § 16i SGB II (Teilhabe am Arbeitsmarkt): Dieses Instrument richtet sich an Personen, die in den letzten sieben Jahren mindestens sechs Jahre lang Arbeitslosengeld II bezogen haben. In den ersten beiden Jahren erhalten Arbeitgeber einen Zuschuss von 100 Prozent zum Mindestlohn, in jedem weiteren Jahr wird dieser Zuschuss um 10 Prozentpunkte gekürzt – bei einer maximalen Förderdauer von fünf Jahren.
- § 16e SGB II (Eingliederung von Langzeitarbeitslosen): Im Rahmen dieses Instruments erhalten Arbeitgeber für die Beschäftigung von Leistungsberechtigten, die seit mindestens zwei Jahren arbeitslos sind, einen Lohnkostenzuschuss für 24 Monate – im ersten Jahr in Höhe von 75 Prozent und im zweiten Jahr in Höhe von 50 Prozent des Arbeitsentgelts.
Mit den beiden Instrumenten werden sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse bei privatwirtschaftlichen, öffentlichen und gemeinnützigen Arbeitgebern gefördert. Beide Maßnahmen sehen eine – auch als Coaching bekannte – „ganzheitliche beschäftigungsbegleitende Betreuung“ der Geförderten vor, die von den Jobcentern oder von beauftragten Trägern erbracht werden kann (lesen Sie dazu auch den IAB-Forschungsbericht 8/2022).
Wir möchten wissen, ob sich die Beschäftigungsfähigkeit und die soziale Teilhabe der Geförderten verbessert hat.
Warum gibt es die Studie „Lebensqualität und Teilhabe“?
Claudia Wenzig: Das IAB evaluiert umfassend die beiden im Rahmen des Teilhabechancengesetzes eingeführten Fördermaßnahmen, die mit einer intensiven Beratung und Betreuung der Geförderten einhergehen. Rund 20 Kolleginnen und Kollegen aus dem IAB untersuchen die institutionelle Implementierung und den betrieblichen Einsatz der Fördermaßnahmen und deren individuelle Wirkungen. Am letzten Aspekt setzt auch unsere neue Studie an. Wir möchten wissen, ob und in welchem Ausmaß die beiden Maßnahmen jeweils die Beschäftigungsfähigkeit und die soziale Teilhabe der Geförderten verbessern. Um dies zu beantworten, haben wir unsere Panelbefragung „Lebensqualität und Teilhabe“ konzipiert.
Und um was für eine Art von Befragung handelt es sich?
Sebastian Hülle: Um zu untersuchen, wie sich die Beschäftigungsfähigkeit und die soziale Teilhabe über die Jahre entwickelt, befragen wir telefonisch dieselben Personen im Abstand von mehreren Jahren. Es handelt sich damit um eine Längsschnitterhebung. Im Rahmen der ersten Erhebungswelle, die wir 2020 durchgeführt haben, sind knapp 17.000 Interviews entstanden. Wir haben für jede der beiden Maßnahmen zwei Gruppen befragt: Da sind zum einen die zunächst Langzeitarbeitslosen, die an einer der beiden Fördermaßnahmen teilnehmen. Und dann haben wir da noch deren sogenannte statistische Zwillinge, also je eine Vergleichsgruppe zu den Geförderten.
Was ist damit gemeint?
Hülle: Diese Personen sind im Gegensatz dazu in keiner Förderung, sie sind aber den Geförderten hinsichtlich relevanter Merkmale sehr ähnlich – beispielsweise in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildung sowie Dauer der Arbeitslosigkeit. Und diese Gruppen können dann miteinander verglichen werden, um zu identifizieren, ob die Teilnahme an einer der beiden Maßnahmen die gewünschten Wirkungen oder vielleicht auch nicht beabsichtigte Nebenwirkungen hat.
Gibt es weitere Besonderheiten im Studiendesign?
Hülle: Ja. Für das Fortbestehen einer Panelstudie ist es ganz entscheidend, dieselben Personen bei den kommenden Erhebungswellen erneut zu interviewen. Wir haben daher versucht, von jeder befragten Person am Ende des ersten Interviews die Zustimmung zu bekommen, sie auch bei den Folgebefragungen einzubeziehen. In den allermeisten Fällen haben wir die Zustimmung zur Wiederbefragung gleich bekommen. Weil uns dies sehr wichtig war, haben wir jene Personen, die diese Zustimmung zunächst nicht gegeben hatten, einige Zeit nach dem Interview noch einmal kontaktiert und versucht, sie dazu zu motivieren, uns doch noch ihre Zustimmung zur weiteren Teilnahme an der Studie zu geben. Gut die Hälfte dieser Personen hat es sich tatsächlich noch einmal anders überlegt. Insgesamt gab uns nahezu jede der befragten Personen – genauer gesagt 97,9 Prozent – die Erlaubnis, sie auch in der 2. Befragungswelle wieder kontaktieren zu dürfen. Das ist ein bemerkenswert hoher Wert.
Fast 98 Prozent der in der ersten Welle Befragten gaben die Erlaubnis, auch in der zweiten Befragungswelle wieder kontaktiert zu werden.
Wenzig: Außerdem wurde unser Fragebogen zusätzlich in eine vereinfachte Sprache übersetzt. Denn wir möchten allen Personen die Teilnahme an unserer Befragung ermöglichen – auch jenen, die Sprach- und Verständnisschwierigkeiten haben, beispielsweise weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. So gibt es zu vielen Fragen auch eine zweite, einfacher formulierte Variante im Fragebogen, bei der Satzbau und Grammatik deutlich einfacher gehalten sind. Außerdem wird auf komplizierte Begriffe verzichtet und stattdessen der Inhalt in einfachen Worten umschrieben. Als besonders positiv und hilfreich bewerten dies Interviewerinnen und Interviewer, die Personen interviewen, bei denen Deutsch nicht die Muttersprache ist.
Welche Anreize können Sie bieten, damit die Leute auch teilnehmen?
Hülle: Zum einen setzen wir auf die Eigenmotivation: So verdeutlichen wir den Zielpersonen zunächst, dass es sich um eine wichtige wissenschaftliche Studie handelt, auf deren Basis Empfehlungen für die Sozialpolitik gegeben werden. Wir motivieren die zu befragenden Personen, indem wir ihnen deutlich machen, dass sie mit ihrer Teilnahme an der Studie und durch die Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen zum Gelingen der Studie beitragen. Zum anderen setzen wir auch auf Motivation in Form eines finanziellen Anreizes: So hat jede Person nach dem Interview als Dankeschön für die Teilnahme bei der ersten Befragungswelle 10 Euro in bar erhalten. Auch für jede weitere Befragung bekommen alle Teilnehmenden jeweils 10 Euro in bar.
Worum geht es konkret in den Interviews?
Wenzig: Wir möchten untersuchen, ob sich die Beschäftigungsfähigkeit und die soziale Teilhabe bei den geförderten Personen durch die jeweilige Fördermaßnahme verbessern. Wir mussten daher einen Fragebogen entwickeln, mit dem wir dies messen können. Für die Messung der sozialen Teilhabe werden sowohl die Teilhaberfahrungen in verschiedenen Lebensbereichen als auch die vorhandenen Ressourcen und Chancen zur Teilhabe erhoben. Da spielen vor allem die soziale Integration und die soziale Anerkennung eine Rolle, also ob man sich eher zur Gesellschaft zugehörig oder eher ausgeschlossen fühlt. Weitere wichtige Aspekte der sozialen Teilhabe sind beispielsweise die gesundheitliche Lage, die materielle Ausstattung oder die kulturelle Partizipation, das heißt ob man aufgrund finanzieller Gründe zum Beispiel auf ein Auto oder den Kinobesuch verzichten muss.
Wichtige Aspekte der sozialen Teilhabe sind beispielsweise die soziale Integration, die gesundheitliche Lage, die materielle Ausstattung oder auch die kulturelle Partizipation.
Und wie lässt sich Beschäftigungsfähigkeit messen?
Wenzig: Auch die Beschäftigungsfähigkeit wird anhand von mehreren Aspekten gemessen. Im Mittelpunkt stehen dabei jene Ressourcen und Bedingungen, die sich unmittelbar auf die Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigungsaufnahme oder einer Weiterbeschäftigung auswirken können. Hier können beispielsweise Arbeitsorientierungen, aber auch das Verhalten bei der Arbeitssuche eine Rolle spielen – oder auch die Möglichkeiten, Familie und Beruf zu vereinbaren.
Fragen Sie auch ab, wie die Fördermaßnahmen in der betrieblichen Praxis konkret ausgestaltet sind?
Wenzig: Ja, das tun wir. Und wir interessieren uns dafür, welche Erfahrungen die Teilnehmenden dabei machen. Zum Beispiel: Wie wurden sie auf die neue Förderung aufmerksam? Sind sie noch beim selben Arbeitgeber beschäftigt? Nehmen sie auch am Coaching, also der beschäftigungsbegleitenden Betreuung, teil und wie bewerten sie dieses Coaching?
Wie war das eigentlich, eine neue Befragung zu Beginn der COVID-19-Pandemie zu starten – gab es da Probleme?
Hülle: Eigentlich wollten wir am 19. März 2020 mit unserer Befragung beginnen. Die ersten Einladungsanschreiben waren bereits verschickt worden. Und dann, wenige Tage vor den ersten Interviews, gab es die Fernsehansprache der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es folgte auf einmal der erste Lockdown mit seinen noch nie dagewesenen Einschränkungen des privaten und beruflichen Lebens. Dem Projektteam war sofort klar, dass wir den Befragungsstart verschieben und unseren Fragebogen noch einmal überarbeiten müssen. Denn eine Befragung während der ersten Wochen des Lockdowns zur Ausgestaltung der Maßnahme, zum Beispiel zu Aspekten wie der Arbeitszeit und dem Kontakt zum Coach, hätte sicher nicht die Situation unter Normalbedingungen widergespiegelt. Außerdem ging es im Fragebogen schwerpunktmäßig ja um soziale Teilhabe. All das konnten wir nicht mehr so erfragen, wie wir uns das ein Jahr vorher überlegt hatten. Hätten wir den Fragebogen nicht geändert, hätten wir sicherlich die Wirkungen der Maßnahme verzerrt gemessen, weil die Pandemie die soziale Teilhabe der meisten Befragten stark beeinträchtigt hat. Darüber hinaus haben wir versucht auch in den Blick zu nehmen, wie sich die Pandemie auf die Befragten ausgewirkt hat.
Aufgrund der Pandemie mussten wir den Befragungsstart verschieben und den Fragebogen noch einmal überarbeiten.
Was waren die pandemiebezogenen Fragen?
Hülle: Wir wollten im Pandemiekontext zusätzlich noch wissen, wie sich die Lebensumstände der Befragten durch die Covid-19-Pandemie geändert haben, beispielsweise: Wie fand die Betreuung durch den Coach statt, wenn keine persönlichen Treffen möglich waren? Was änderte sich gegebenenfalls an der Art der Beschäftigung und den Fördermaßnahmen? Gab es zum Beispiel die Möglichkeit der Heimarbeit, gab es Arbeitszeitänderungen und Kurzarbeit? Machten sich die Befragten wegen der Pandemie Sorgen um die eigene Gesundheit oder die finanzielle Situation? Die Befragung startete dann am 5. Mai 2020 mit dem überarbeiteten Fragebogen.
Wie geht es jetzt weiter – was sind die nächsten Schritte im Projekt?
Wenzig: Wir haben gerade einen ausführlichen Feld– und Methodenbericht zur ersten Erhebungswelle im IAB-Forschungsbericht 3/2021 veröffentlicht. Dadurch kann sich jeder einen besseren Eindruck von unserer Studie verschaffen. Vor kurzem haben wir die Datenerhebung der zweiten Erhebungswelle abgeschlossen, die Datenaufbereitung läuft derzeit. Wir sind im Moment auch dabei, den Fragebogen für die dritte Erhebungswelle zu entwickeln. Parallel dazu analysiert unser Projektteam die Daten unserer Panelerhebung. Wir schreiben Beiträge für Fachzeitschriften, tragen unsere Ergebnisse auf Workshops und Fachtagungen vor und beraten natürlich die Bundesagentur für Arbeit sowie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Literatur
Bauer, Frank; Bennett, Jenny; Coban, Mustafa; Dietz, Martin; Friedrich, Martin; Fuchs, Philipp; Gellermann, Jan; Globisch, Claudia; Gottwald, Markus; Gricevic, Zbignev; Hülle, Sebastian; Kiesel, Markus; Kupka, Peter; Nivorozhkin, Anton; Promberger, Markus; Raab, Miriam; Ramos Lobato, Philipp; Schmucker, Alexandra; Stockinger, Bastian; Trappmann, Mark; Wenzig, Claudia; Wolff, Joachim; Zabel, Cordula; Zins, Stefan (2021): Evaluation der Förderinstrumente nach §16e und §16i SGB II – Zwischenbericht. IAB-Forschungsbericht Nr. 3.
Hülle, Sebastian; Achatz, Juliane; Coban, Mustafa; Friedrich, Martin; Gricevic, Zbignev; Kiesel, Markus; Kleinemeier, Rita; Meß, Andreas; Schels, Brigitte; Trappmann, Mark; Wagemann, Ute; Wenzig, Claudia; Wolff, Joachim; Zabel, Cordula; Zins, Stefan (2022): Panel Lebensqualität und Teilhabe – Feld- und Methodenbericht der Welle 1. IAB-Forschungsbericht Nr. 8.
DOI: 10.48720/IAB.FOO.20220629.01
Schludi, Martin (2022): Teilhabechancengesetz: Wie das IAB die Perspektive der Geförderten ergründet, In: IAB-Forum 29. Juni 2022, https://www.iab-forum.de/teilhabechancengesetz-wie-das-iab-die-perspektive-der-gefoerderten-ergruendet/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Martin Schludi