15. Dezember 2023 | Interviews
Cortisolmessungen zeigen: Nicht unbedingt Arbeitslosigkeit, sondern vor allem berufliche Unsicherheit führt zu erhöhtem chronischem Stress
Es gibt bereits einige Studien zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Lebenszufriedenheit. Was ist das Besondere an Ihrer Studie?
Mario Lawes: Eine Besonderheit sind sicherlich die kurzen Abstände zwischen unseren Messungen. Die bisherige Forschung zu Arbeitslosigkeit und Wohlbefinden basiert meist auf jährlichen Daten. Mit unseren monatlichen Erhebungen haben wir erstmals die unmittelbaren Veränderungen im Wohlbefinden direkt nach Eintritt in die Arbeitslosigkeit untersuchen können. Zudem befragen wir die Personen bis zu zwei Jahre lang, damit können wir nicht nur die kurzfristigen, sondern auch mittelfristige Auswirkungen erfassen.
Julia Schmidtke: Besonders war auch, dass unsere Studie ein spezifisches Merkmal der deutschen Arbeitslosenversicherung nutzen konnte: Personen, die Arbeitslosengeld beziehen wollen, sind nämlich verpflichtet, sich bereits drei Monate vor dem erwarteten Ende ihrer Beschäftigung als arbeitssuchend zu registrieren. Auf der Basis dieser Arbeitssuchendmeldungen haben wir Personen für unsere Studie gewinnen können, die zwar noch beschäftigt waren, aber bereits erwarteten, ihren Job zu verlieren. Wichtig ist, dass nur ein Teil dieser Personen tatsächlich auch arbeitslos wurde. Viele konnten nämlich doch ihren Job behalten oder fanden direkt eine neue Beschäftigung. Diese Personengruppen haben wir miteinander verglichen und konnten so die Auswirkungen von Lebenszufriedenheit und Arbeitslosigkeit gut untersuchen.
Die Befragten erhielten Push-Nachrichten mit kurzen Fragebögen zu ihrer aktuellen Stimmung.
Sie haben aber nicht nur nach Lebenszufriedenheit gefragt?
Lawes: Nein, wir haben all diese Personen auch zu einer Vielzahl weiterer Aspekte ihres Wohlbefindens um Auskunft gebeten. Zum Beispiel erhielten sie an einigen Tagen mit etwas Zeitabstand sechs Push-Nachrichten mit kurzen Fragebögen zu ihrer aktuellen Stimmung, um diese in Echtzeit zu messen. Außerdem haben wir nach Facetten des sogenannten eudaimonischen Wohlbefindens gefragt. Darunter versteht man unter anderem, wenn Personen Sinnhaftigkeit in ihrem Leben empfinden, sie positive Beziehungen zu anderen Personen pflegen und sie sich so akzeptieren, wie sie sind.
Was hat Sie bei Ihren Ergebnissen am meisten überrascht?
Lawes: Zu unserer Überraschung hat sich die Arbeitslosigkeit zwar negativ auf die Lebenszufriedenheit und die Einkommenszufriedenheit der Befragten ausgewirkt, aber nicht unmittelbar auf deren momentane Stimmung, oder auf ihr eudaimonisches Wohlbefinden. Wir sehen allerdings starke Unterschiede darin, wie Personen auf Arbeitslosigkeit reagieren. Spannend fanden wir dabei, dass die erwartete Länge der Arbeitslosigkeit eine größere Rolle zu spielen scheint als individuelle Bewältigungsressourcen, also zum Beispiel, wie gut es den Personen vor der Arbeitslosigkeit ging.
Die mittlere Haarcortisolkonzentration war am höchsten, als sich unsere Teilnehmenden arbeitssuchend gemeldet haben.
Durch die wiederholte Messung von Haarcortisol haben Sie zudem erstmals untersucht, wie sich die Arbeitssuche auf einen Biomarker für chronischen Stress auswirkt. Welche Erkenntnisse hat Ihnen das zusätzlich zur App-Befragung geliefert?
Lawes: Genau, neben den monatlichen App-Befragungen konnten die Teilnehmenden alle drei Monate eine Haarprobe von sich einschicken. Damit konnten wir den Cortisolgehalt im Haar bestimmen lassen. Das Hormon Cortisol wird vom Körper ausgeschüttet, um Stress zu bewältigen. Wenn eine solche Cortisolausschüttung längerfristig anhält, ist das mit zahlreichen negativen gesundheitlichen Folgen wie Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems und Diabetes verbunden. Die Analyse von Haarcortisol hat sich in den letzten Jahren als Biomarker für chronischem Stress etabliert.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die mittlere Haarcortisolkonzentration am höchsten war, als sie sich arbeitsuchend gemeldet haben. Also dann, als die beruflichen Aussichten für viele besonders ungewiss waren. Zudem stieg das Haarcortisol bei Personen, die bereits länger arbeitslos waren und geringere Hoffnung auf einen neuen Job hatten, stärker an als bei Personen, die gleich lang arbeitslos waren, aber erwarteten, schnell wieder eine Beschäftigung zu finden. Wir schlussfolgern daraus, dass Arbeitslosigkeit nicht per se mit erhöhtem chronischem Stress assoziiert ist. Vielmehr scheint es die berufliche Unsicherheit zu sein, die zu erhöhtem chronischem Stress führt.
Eine kritisches Lebensereignis, das uns im Zeitraum der Studie wohl alle betraf, ist die Covid-19-Pandemie. Welche Effekte hatten der Lockdown und die erste Infektionswelle auf das Wohlbefinden der Befragten?
Schmidtke: Es gab diverse interessante Effekte. So ist die allgemeine Lebenszufriedenheit nur im ersten Monat des ersten Lockdowns im März 2020 leicht gesunken. Stärkere negative Effekte finden wir hingegen auf die psychische Gesundheit. Wir stellen zudem fest, dass sich der Beginn der Pandemie bereits vor der Einführung des Lockdowns negativ auf die Stimmung der Befragten ausgewirkt hat.
Im Sommer 2020, zwischen der ersten und zweiten Infektionswelle, ist das Wohlbefinden der Befragten wieder zum Ausgangsniveau zurückgekehrt. Die zweite Welle hat das Wohlbefinden insgesamt weniger beeinträchtigt als die erste – mit Ausnahme der Arbeitszufriedenheit. Auf die wirkte sich die Pandemie über den ganzen Zeitverlauf schwach negativ aus, egal, ob wir uns in einer Infektionswelle befanden, oder nicht. Zudem war das Wohlbefinden von Personen in Kurzarbeit besonders negativ von der Pandemie betroffen. Wir vermuten, dass dies an der mit Kurzarbeit verbundenen beruflichen Unsicherheit liegt. Da sehen wir also Parallelen zu den Cortisol-Ergebnissen zu chronischem Stress: Unsicherheit scheint sich besonders negativ auf das Wohlbefinden und die Gesundheit auszuwirken.
Durch die Digitalisierung stehen uns für die Forschung eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten zur Verfügung.
Dass alle Personen einmal im Monat befragt wurden, also sehr hochfrequent, wäre vor der Digitalisierung deutlich schwieriger gewesen. Welche Chancen sehen Sie in neuen Techniken für die Zukunft der Forschung?
Lawes: Heutzutage besitzt fast jeder ein Smartphone. Durch App-Befragungen können wir also schnell, kostengünstig und benutzerfreundlich Fragebogendaten sammeln. Außerdem können Personen so direkt in ihrer natürlichen Umgebung befragt werden. Unsere Studie zeigt zudem, dass sich App-Befragungen mit der Messung von Biomarkern verbinden lassen. Wir sind davon überzeugt, dass solche multi-methodalen Studien in Zukunft zunehmen werden.
Schmidtke: Insgesamt stehen uns durch die Digitalisierung eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten zur Verfügung. Ein interessantes Feld finde ich auch Sensor- und Appnutzungsdaten, wie sie schon in anderen Studien, wie beispielsweise der IAB-SMART-Studie (lesen Sie dazu einen 2018 im IAB-Forum erschienenen Beitrag von Sebastian Bähr und anderen), erhoben wurden. Auch durch die Verknüpfung und gemeinsame Betrachtung verschiedener Datenquellen, wie beispielsweise von Befragungsdaten und administrativen Daten, können sich spannende Synergien ergeben. Ein umfassender Datenschutz ist dafür natürlich die Grundvoraussetzung. Bei alldem sind wir Forschende außerdem auf die Bereitschaft von ausreichend vielen Personen angewiesen, freiwillig an solchen Studien teilzunehmen.
Literatur
Gesine Stephan, Clemens Hetschko, Julia Schmidtke, Mario Lawes, Michael Eid, Ronnie Schöb (2023): Das „German Job Search Panel“: Die Effekte von Arbeitslosigkeit und Covid19 auf das Wohlbefinden. IAB-Forschungsbericht Nr. 19.
Bild: DedMityay/stock.adobe.com
doi: 10.48720/IAB.FOO.20231215.01
Keitel, Christiane (2023): Cortisolmessungen zeigen: Nicht unbedingt Arbeitslosigkeit, sondern vor allem berufliche Unsicherheit führt zu erhöhtem chronischem Stress, In: IAB-Forum 15. Dezember 2023, https://www.iab-forum.de/nicht-unbedingt-arbeitslosigkeit-fuehrt-zu-erhoehtem-chronischem-stress/, Abrufdatum: 18. December 2024
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Autoren:
- Christiane Keitel