10. Juni 2020 | Serie „Corona-Krise: Folgen für den Arbeitsmarkt“
Knapper Wohnraum, weniger IT-Ausstattung, häufiger alleinstehend: Warum die Corona-Krise Menschen in der Grundsicherung hart trifft
Sebastian Bähr , Corinna Frodermann , Jens Stegmaier , Nils Teichler , Mark Trappmann
April 2020: Die Corona-Maßnahmen treffen die gesamte Gesellschaft. Öffentliche Räume sind nur noch sehr eingeschränkt zugänglich, Schulen und Kindertagesstätten geschlossen, Treffen mit Freunden und Bekannten finden kaum mehr statt. Gleichwohl haben diese Maßnahmen nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleich stark getroffen. Manche sind verwundbarer als andere. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von unterschiedlicher „Vulnerabilität“. Haushalte, die sich in der sozialen Grundsicherung befinden, wurden von den Einschränkungen in vieler Hinsicht besonders stark getroffen. Denn sie verfügen häufig nicht über die notwendigen Ressourcen, um die Auswirkungen der Krise gut abfedern zu können. Dies legen Befunde auf Basis der Längsschnittstudie Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS) aus den Jahren 2017 und 2018 nahe, die im Folgenden vorgestellt werden.
Soziale Unterstützung, IT-Ausstattung und angemessener Wohnraum sind wichtige Ressourcen im Lockdown
Generell gehen sozialpsychologische Theorien davon aus, dass Menschen unterschiedlich gut mit Stress umgehen können. Auch eine Krise wie die Corona-Pandemie wirkt als sogenannter Stressor auf Individuen und Haushalte. Diesen Theorien zufolge können die Betroffenen Krisen bewältigen, indem sie bestimmte Ressourcen aktivieren. Diese Ressourcen haben einen Einfluss darauf, wie stark der Stressor wirkt und inwieweit er tatsächlich Stress auslöst. Ob die Corona-Krise beispielsweise zu sozialer Isolation oder Konflikten im Haushalt führt, hängt maßgeblich davon ab, ob den Betroffenen Ressourcen zur Verfügung stehen, die ihnen bei der Bewältigung der Krise helfen.
Für die Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen während der Corona-Krise sind neben ökonomischen Ressourcen besonders diejenigen Ressourcen entscheidend, die sich aus sozialen Netzwerken, der Wohnsituation und dem Wohnumfeld ergeben. Damit Freunde, Verwandte und Bekannte trotz sozialer Distanzierung miteinander in Kontakt bleiben können, ist zudem die Ausstattung mit Informationstechnologie wichtig, zumal sich die Betroffenen dadurch auch mit krisenrelevanten Informationen versorgen können.
Besonders betroffen: Familien mit Kindern und ältere Menschen in der Grundsicherung
Wer sich in der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder in der Grundsicherung im Alter befindet, ist in all diesen Bereichen im Schnitt deutlich schlechter ausgestattet. Dabei handelt es sich nicht selten um Menschen, die ohnehin in mehrfacher Hinsicht benachteiligt sind, etwa weil sie alleinerziehend oder gesundheitlich beeinträchtigt sind. Wie die Betroffenen mit der Krise umgehen, hängt neben den verfügbaren Ressourcen auch von ihrer Lebenssituation ab. Wenn Schulen, Kitas und Spielplätze geschlossen sind, haben es insbesondere Familien mit Kindern, circa ein Drittel aller Personen im Grundsicherungsbezug, sehr schwer.
Auch Ältere sind überproportional betroffen. Zählt man die Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Grundsicherung im Alter zusammen, so sind etwa ein Fünftel der Personen im Grundsicherungsbezug 60 Jahre oder älter. Für sie ist die Gefahr eines schwereren Verlaufs von Covid-19 größer, die Einhaltung des Abstandsgebots mithin umso wichtiger. Daher ist gerade für sie die Gefahr sozialer Isolation besonders groß.
Lebensform: Fast die Hälfte der Personen in der Grundsicherung lebt ohne Partnerin oder Partner im Haushalt
In Zeiten, in denen das soziale Leben weitgehend auf die eigenen vier Wände beschränkt ist, kann ein Partner oder eine Partnerin im Haushalt eine wichtige Stütze sein. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, lebt mit 48 Prozent fast die Hälfte der Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger in Haushalten ohne einen weiteren Erwachsenen. In Haushalten ohne Grundsicherungsbezug ist es nur knapp jeder Vierte.
Besonders schwierig ist die Situation von Alleinerziehenden, die acht Prozent aller Grundsicherungsbeziehenden ausmachen (außerhalb der Grundsicherung sind es knapp zwei Prozent). Etwa ein Drittel davon ist zugleich erwerbstätig. Schulschließungen dürften für diese Gruppe die Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit sehr häufig erschweren oder gar unmöglich machen.
Soziale Netzwerke: Grundsicherungsbeziehende sind häufiger sozial isoliert
Auch enge Beziehungen zu Personen außerhalb des eigenen Haushalts sind eine wichtige Ressource zur Bewältigung der Krise. Das trifft umso mehr auf Personen zu, die nicht mit einer Partnerin oder einem Partner zusammenleben. Selbst wer Teil eines großen sozialen Netzwerks ist, kann derzeit nur eingeschränkt persönlichen Kontakt mit engen Freundinnen und Freunden oder Verwandten pflegen. Dennoch ist die emotionale Unterstützung durch solche engen Kontakte und die Möglichkeit, sich über seine Sorgen und Nöte auszutauschen, gerade in Krisenzeiten wichtig. Außerdem bieten solche Netzwerke praktische Hilfen wie finanzielle Unterstützung oder Hilfe beim Einkaufen. Von Letzterem profitieren vor allem ältere Menschen und Risikogruppen, die wegen der Gefahr der Ansteckung das Haus seltener verlassen sollten.
Erfreulicherweise gibt es in Deutschland nur sehr wenige Menschen, die sich selbst als völlig sozial isoliert bezeichnen, also angeben, gar keine engen Bezugspersonen zu haben (siehe Tabelle 2). Dementsprechend ist auch unter Grundsicherungsbeziehenden der Anteil absolut gesehen nicht sehr hoch. Allerdings tritt der relative Nachteil hier besonders deutlich hervor, denn Grundsicherungsbeziehende sind mit neun Prozent dreimal so häufig sozial isoliert wie Personen ohne Grundsicherungsbezug mit drei Prozent. Für Eltern im Grundsicherungsbezug zeigt sich ein ähnliches Bild: Hier sind es acht Prozent gegenüber zwei Prozent bei Eltern ohne Grundsicherungsbezug.
IT-Ausstattung: Viele haben keinen Computer mit Internetanschluss
In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverboten sind ein Computer mit Internetanschluss und ein Smartphone sprichwörtlich das Fenster zur Welt und wichtige Medien für sozialen Austausch. Digitale Kommunikation kann die soziale Isolation abmildern und den Menschen das Gefühl geben, in der aktuellen Situation nicht alleine zu sein. Sie ist aber auch eine wichtige Voraussetzung, um zum Beispiel im Homeoffice tätig sein zu können oder an Home Schooling teilzunehmen.
Personen in der Grundsicherung besitzen allerdings seltener einen Computer mit Internetanschluss als der Rest der Bevölkerung (siehe Tabelle 2). Während 87 Prozent aller Personen ohne Grundsicherungsbezug über einen solchen verfügen, berichten dies nur knapp 70 Prozent aller Personen in der Grundsicherung. Bei den Grundsicherungsbeziehenden mit Kindern, bei denen der Computer nicht zuletzt eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme der Kinder an Home Schooling ist, liegt der Anteil mit knapp 78 Prozent etwas höher. Er fällt jedoch im Vergleich zu Eltern ohne Leistungsbezug, wo er 97 Prozent beträgt, noch etwas stärker ab. Bei den älteren Personen unterscheiden sich diejenigen, die keine Grundsicherungsleistungen beziehen, nicht signifikant von Grundsicherungsbeziehenden.
Bei der Verfügbarkeit von Smartphones zeigt sich kein Unterschied
Ein Smartphone besitzen etwa 76 Prozent der Personen ohne Leistungsbezug. Hier besteht kaum ein Unterschied zu den Personen in der Grundsicherung. Erwartungsgemäß ist der Besitz eines Smartphones insbesondere eine Frage des Alters. Entsprechend sind Eltern überdurchschnittlich gut ausgestattet, während Ältere mehrheitlich nicht über ein Gerät verfügen. Einschränkend ist aber anzumerken, dass praktisch unterschiedslos fast alle Haushalte in Deutschland über ein Telefon verfügen.
Wohnen: 40 Prozent der Grundsicherungsbeziehenden in Haushalten mit Kindern leben beengt
Die verhängten Ausgangsbeschränkungen haben für die meisten Menschen das tägliche Leben von der Öffentlichkeit in das Private verschoben. Viele öffentlichen Plätze und Räume, Spielplätze oder Parks waren über längere Zeit geschlossen oder konnten beziehungsweise können nur eingeschränkt genutzt werden. Zudem arbeiten viele Menschen von zu Hause aus oder betreuen dort ihre Kinder, da Schulen oder Kitas geschlossen wurden. Lange Zeit verbrachten die Menschen erheblich mehr Zeit in ihren Wohnungen oder Häusern und ihrer direkten Wohnumgebung als vor der Krise.
Wohnung und Wohnumgebung können als sozial-räumliche Ressourcen verstanden werden. Denn diese Ressourcen – also die Größe, Ausstattung und Lage einer Wohnung – haben einen Einfluss darauf, wie gut Menschen mit den Zumutungen der aktuellen Krise umgehen können. So dürften die Ausgangsbeschränkungen beispielsweise eine fünfköpfige Familie weniger hart treffen, wenn diese in einem großen Haus mit Garten wohnt und nicht in einer beengten Drei-Zimmer-Wohnung ohne Balkon.
Haushalte in der Grundsicherung verfügen meist über eine schlechtere Ressourcenausstattung in ihrem Wohnumfeld (siehe Tabelle 3). Sie haben – und dies trifft auf alle hier untersuchten Teilgruppen gleichermaßen zu – nur etwa zwei Drittel der Wohnfläche zur Verfügung, die Personen außerhalb der Grundsicherung nutzen können. In immerhin 40 Prozent der Grundsicherungshaushalte mit Kindern müssen sich diese ein (oder mehrere) Zimmer miteinander teilen. Dies lässt sich zumindest tendenziell aus der Tatsache schließen, dass die Wohnung in diesen Fällen weniger Zimmer als Personen hat. Bei Haushalten außerhalb der Grundsicherung trifft dies nur in knapp drei Prozent der Fälle zu.
Zudem hat fast jede vierte Person in der Grundsicherung keinen Garten, keinen Balkon und keine Terrasse. Außerhalb der Grundsicherung ist es nicht einmal jede zwölfte. Ferner schätzen sie die Qualität ihrer Wohngegend weniger günstig ein als Personen außerhalb der Grundsicherung. Der Vergleich innerhalb der drei Gruppen bestätigt dies nochmals: Grundsicherungsempfänger sind in jeder der betrachteten Dimensionen des Wohnumfelds schlechter ausgestattet. Die räumliche Enge und die eingeschränkteren Ausweichmöglichkeiten könnten das Stresspotenzial und die Gefahr häuslicher Konflikte erhöhen. Daher sind die Ausgangsbeschränkungen gerade für Grundsicherungsbeziehende mit kleinen Kindern besonders schwierig.
Nur gut jeder dritte Grundsicherungsbeziehende verfügt über ein Auto
Gerade in Zeiten von Corona kann auch der Besitz eines Autos einen Unterschied machen. Wer ein Auto hat, kann es für den täglichen Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen nutzen und ist nicht auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Dies verringert die Gefahr einer Ansteckung. Auch in diesem Punkt sind Menschen in der Grundsicherung im Nachteil: Nur 36 Prozent von ihnen besitzen ein Auto, außerhalb der Grundsicherung sind es 86 Prozent. Besonders drastisch trifft dies in der Gruppe der Älteren zu: Hier hat nur jeder Vierte, der Grundsicherungsleistungen bezieht, Zugang zu einem Automobil. Dagegen verfügen fünf von sechs Nichtleistungsbeziehern über ein Auto.
Fazit
Neben den direkten gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen werden auch die sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie unsere Gesellschaft längere Zeit beschäftigen. Auch die sozialen Folgen zunehmender Arbeitslosigkeit sind noch nicht absehbar. Dies wiederum wird stark vom Ausmaß und der Dauer der verhängten Kontaktbeschränkungen abhängen.
Für Haushalte in der Grundsicherung waren die Folgen der Krise schon bislang besonders schwer zu bewältigen. Zum einen sind sie häufiger alleinlebend oder alleinerziehend, wodurch das Risiko sozialer Isolation steigt. Zum anderen fehlen ihnen häufiger andere wichtige Ressourcen für den Umgang mit der Krise. So besitzen sie seltener einen Computer mit Internetanschluss oder ein Auto, leben häufiger in beengten Wohnverhältnissen und bewerten auch ihre Wohnumgebung schlechter als Menschen, die nicht auf die Grundsicherung angewiesen sind.
Die Corona-Krise trifft also die ökonomisch ohnehin schwächeren Gruppen in besonderer Weise. Das kann langfristig auch mit gesamtgesellschaftlich problematischen Folgen verbunden sein. Der Sozialforschung kommt die Aufgabe zu, möglichst frühzeitig Daten zu den sozialen Folgen der Corona-Krise und damit empirische Entscheidungshilfen für die Politik bereitzustellen.
Daten und Methoden
Um die Ressourcenausstattung vulnerabler Bevölkerungsgruppen zu bestimmen, werden Daten der 11. und 12. Welle (2017-2018) des Panels „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) ausgewertet. Dabei handelt es sich um eine jährliche Panelbefragung der Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren. Leistungsberechtigte der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind stark überrepräsentiert, sodass im Vergleich zu anderen Befragungsdaten präzisere Aussagen über diese Gruppe möglich sind. Zugleich lassen sich die Befragungsergebnisse mithilfe von Hochrechnungsfaktoren auf die gesamte Wohnbevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren hochrechnen. Einen kurzen Überblick über die Methodik gibt der Artikel von Trappmann et al. 2019.
Literatur
Trappmann, Mark; Bähr, Sebastian; Beste, Jonas; Eberl, Andreas; Frodermann, Corinna; Gundert, Stefanie; Schwarz, Stefan; Teichler, Nils; Unger, Stefanie; Wenzig, Claudia (2019): Data Resource Profile: Panel Study Labour Market and Social Security (PASS). In: International Journal of Epidemiology, Vol. 48, No. 5, S. 1411–1411g.
Bähr, Sebastian; Frodermann, Corinna ; Stegmaier, Jens; Teichler, Nils; Trappmann, Mark (2020): Knapper Wohnraum, weniger IT-Ausstattung, häufiger alleinstehend: Warum die Corona-Krise Menschen in der Grundsicherung hart trifft, In: IAB-Forum 10. Juni 2020, https://www.iab-forum.de/knapper-wohnraum-weniger-it-ausstattung-haeufiger-alleinstehend-warum-die-corona-krise-menschen-in-der-grundsicherung-hart-trifft/, Abrufdatum: 22. November 2024
Autoren:
- Sebastian Bähr
- Corinna Frodermann
- Jens Stegmaier
- Nils Teichler
- Mark Trappmann